Briefwechsel

Die Idee ist einfach, eine Frage wird in einem Brief geschrieben und mit den darauf folgenden Antworten weiteren BrieffreundInnen weitergeleitet. Und hier zum Mitlesen (und Mitdenken) dokumentierert.

(Chronologische Anordnung - neuester Eintrag am Ende)


Der erste Briefwechsel umkreist die Frage: Gibt es noch große Erzählungen? Oder sind sie wirklich verloren? Und brauchen wir sie?


Erster Gedanke - die großen Erzählungen

 Im Herbst 2021
Lieber Thorsten, liebe Mitlesende,
einen Gedanken umkreise ich immer wieder. Es ist der Verlust der großen Erzählung. Gerade in den letzten Tagen habe ich ihn wieder vor mir und frage mich, ob es nur der bereits früh Einzug gehaltene Herbst ist, der mich melancholisch und auch etwas traurig über das Ende des lebensfrohen Sommers werden läßt oder das Wahrnehmen der verschwindenden Kraft von verheißungsvollen Welterklärungen. Wenn ich als Vertreter der (katholischen) Kirche an Dich als Vertreter der Sozialdemokratie schreibe, dürfte klar sein, was ich meine. Die Welt und damit die sie gestaltenden Menschen wurden immer wieder bewegt durch große Ideen. Auch wenn sich beides nicht vergleichen lässt, aber wie sehr haben die Erzählungen von einem Gott, der ganz menschlich wurde und von der bereits auf Erden anzustrebenden Errichtung des Reiches Gottes (als ein Reich voller Frieden und Gerechtigkeit) auf der einen Seite und die Verheißung einer klassenlosen Gesellschaft (voller Freiheit und Solidarität) auf einer anderen Seite der Geschichte die Menschen mobilisiert, begeistert und eben auch motiviert. Wieviele Märtyrerinnen gibt es für die eine und die andere Sache - und das nicht nur im altphilologischen Wortsinn, dass sie diese Idee bezeugten, sondern auch im ganz realen Sinne, dass sie dafür sogar ihr Leben einsetzten. Und es geht auch eine Nummer kleiner: wie sehr waren Menschen einfach begeistert von der einen, "guten Sache", für die es zu kämpfen lohnte und die einem Sinn stiftete. Max Weber hat einmal von der doppelten Funktion der Religion gesprochen, von der ordnungsstiftenden und der sinnstiftenden. Diese beiden Funktionen gelten m.e. auch für andere große Ideen und Erzählungen.

Nun will ich nicht noch einmal die These vom "Ende der Geschichte" bemühen. Auch wenn die Feststellung des Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, dass sich nach 1989 nur noch die eine Geschichte von liberaler Demokratie und freier Marktwirtschaft als Weltdeutung und Weltgestaltung erzählen läßt, sehr gut zu meiner Frage passt. Was mich viel mehr umtreibt ist die Sorge, dass wir eine große Erzählung - oder um das etwas inflationär gebrauchte Wort zu verwenden, ein entsprechendes Narrativ brauchen, um die großen Herausforderungen unserer Zeit zu meistern.

Aber sind wir nicht alle kleinlaut geworden, weil wir nicht (mehr) an die großen Erzählungen glauben und jeglichen Anflug von Pathos und Mission als unschicklich deuten? Und ärgert uns nicht alle diese zögerliche weil visionslose Politik des Zumutbaren?

Und mit weiteren Fragen beende ich diesen Gedanken vom Verlust der großen Erzählung: Vielleicht fehlt der Idee der Menschenrechte ein spiritueller Bezugspunkt, um sie zu einer breitenwirksamen großen Erzählung zu machen? Vielleicht braucht eine große Erzählung einen klaren Rivalen, eine gegnerische Erzählung, die uns bedroht?


Im Winter 2021

Lieber Siegfried,
dieser Herbst ist in der Tat melancholisch. Vielleicht ist die Melancholie aber auch eine der Wesensmerkmale des Herbstes. Die Natur weiß nicht so recht, welche Farben sie einnehmen soll. Und wir nicht, welche Laune. Die Wirkung der wenigen Sonnenstrahlen, die einem das Gemüt erheitern, hält maximal bis zu den abendlichen Nachrichten, in denen die Pandemie und ihre Folgen ein Großteil der Sendezeit einnehmen.
 
Diese Zeit jetzt, die zweifelsohne ein außergewöhnliches Jahrhundertereignis ist, stellt uns im Alltag vor große Herausforderungen, sie wirft aber auch sehr grundsätzliche Fragen von Gesellschaft und Gerechtigkeit auf, und das - ohne zu übertreiben - wirklich unter globalen Gesichtspunkten. Aber beinahe niemand hat Interesse und Lust diese Fragen zu diskutieren, vielleicht weil für einen persönlich die Antworten auch zu unangenehm wären. Wer würde schon freiwillig gerne länger auf seine Spritze verzichten, weil das Vakzin zuerst auf der Südhalbkugel verimpft wird und nicht hier? Die weltweite Verteilung der Impfdosen wäre jedenfalls eine solche grundsätzliche Gerechtigkeitsfrage. 
 
Es herrscht Debattenmüdigkeit. Andere Dinge stehen im Vordergrund. Es geht eher um die Frage, wie man seinen Alltag mit der Pandemie bestreitet, wie man zeitnah seinen Booster-Impftermin erhält, ob und wie die Weihnachtsfeiern noch verantwortbar wären und wie der nächste Urlaub bei all diesen Beschränkungen vielleicht doch noch möglich wird. Dieser Pragmatismus frisst die mentalen Kapazitäten für das Grundsätzliche. Größer Denken ist zu anstrengend.
 
Für große Erzählungen und die Debatte über sie ist es deshalb möglicherweise gerade nicht die beste Zeit. Aber ich teile Deine Sehnsucht nach ihnen. Eine Erzählung stiftet Identität, Orientierung und Zugehörigkeit. Sie liefert Maßstäbe für eigenes, werteorientiertes Handeln und zeigt Ziele und Visionen auf. Zumindest glaube ich das. Weil als Jahrgang 1984 weiß ich ehrlich gesagt gar nicht, ob dem früher wirklich so war und eine Erzählung dieser Vorstellung auch gerecht werden kann.  Die Welterklärungen, die nicht nur die Bibliotheksbücher füllen, sondern auch fortlaufende Auswirkungen auf unsere Lebenswirklichkeit haben, haben ihre Hochzeiten wohl hinter sich. Die Geschichte (als History) fand kein Ende, die narrativen Storys wie die des Kalten Krieges aber schon.

Aber woran liegt das? Da bin ich nah bei Dir. Vielleicht reicht nicht eine große, wirkungsmächtige Erzählung. Vielleicht braucht es immer mindestens zwei, immer auch eine Alternative, etwas Konträres, etwas, wogegen man sein kann. Oder wie Du noch zugespitzter schreibst: etwas, das einen bedroht. Es braucht zwei Pole, die für Spannung sorgen. Wenn die Anziehungskraft des einen nicht reicht, so vermag es vielleicht die Abstoßungskraft des anderen, einen in eine erkennbare Richtung zu bewegen. Die (vermeintliche) Überlegenheit des Westens brauchte den Kommunismus, die Arbeiterbewegung das Feindbild des (Groß-)Kapitalismus und die Bourgeoisie. Das waren jeweils zwei Pole, bei denen mit der Zeit jeweils einer an Abstoßungskraft verlor oder gänzlich abhanden kam.

Das hat sicherlich auch damit zu tun, dass Erzählungen eben nicht nur Autor*innen brauchen, die die Idee einmal zu Papier bringen. Sie brauchen auch Erzähler*innen, die die Ideen in die nächste Generation tragen und dabei hin und wieder Übersetzungshilfe leisten. Sterben diese auf einer Seite aus, sind solche Erzählungen auf beiden Seiten tot.

Nun stellt sich heute die Frage, ob die alten Erzählungen noch taugen und wir nur neue Erzähler*innen brauchen? Oder brauchen wir gar eine neue Erzählung?

Thorsten

Im Januar 2022
Lieber Thorsten, liebe Mitlesende,

herzlichen Dank für Deine Antwort und vielleicht ergänzend ein paar Gedanken zum Weiterspinnen aus meinem Gespräch mit Armin Jelenik über „Die großen Erzählungen“ und natürlich auch die Rolle der Medien und damit seinem Metier: Vielleicht haben wir den falschen Blick auf die Dynamik der herrschenden Ideen. Und es entsteht gerade eine Gegenerzählung zu dieser - für uns Gleichgesinnten - großen Erzählung einer fortschreitenden Humanisierung der Welt. Eine Gegenerzählung, die wir alle nicht wahrhaben wollen. Die großen Erzählungen wurden schließlich zumeist als GEGEN-Erzählungen entwickelt, geschrieben und haben die Köpfe (und Herzen) erfüllt. Die Entdeckung der Rationalität gegen die christliche Scholastik und ihre Dogmen, die Bürgerrechte gegen das Ancien Régime und damit das Bündnis von Adel und Kirche und die Arbeiterbewegung gegen Wirtschaftsbourgoise und Kapital.

Irgendwie mündeten so manche dieser Erzählungen in einem gemeinsamen Erzählstrang einer humanen (an den Menschenrechten orientierten) Welt – auch wenn der Ausgangspunkt unterschiedlich (christlichen, naturrechtlich, rational) begründet war. Kennzeichen dieser gemeinsamen Sinndeutung war allerdings der Verlust einer methaphysischen, allgemein transzendenten oder zumindest teleologischen Ebene. Ich meine damit, dass duch die Säkularisierung dieser Ideen auch der transzendente Anteil der Lebensdeutung verschwand und es blieb nur die Verheißung der Erfüllung materieller Sehnsucht im Gegenwärtigen für sich (oder zumindest der Nachkommen). 

Und nun endet diese Verheißung! Es wird überdeutlich, dass die Grenzen des Wachstums erreicht sind, dass es ein „Weiter, Größer, Mehr“ nicht mehr geben kann, dass die Verteilung der Ressourcen neu geregelt werden muss, dass es um Bescheidenheit und Suffizienz statt um einen größeren Wohlstand für Alle gehen muss.

Und diese Botschaft überbringen just jene etablierten Vertreter der herrschenden Schicht (in Politik, Kultur und Religion), die auch die Agenten einer humanen Weltgestaltung in weltgeschichtlicher Perspektive und damit der herrschenden großen Erzählung sind.

Und dagegen erwacht eine Gegenrede. Das heißt, die Gegenerzählung formiert sich gerade wo anders.

Und schließlich sprachen wir noch über uns (und unsere Institutionen) als Agenten des öffentlichen Diskurses. Letztlich sind wir alle Mitstreiter um den nicht vergößerbaren Kuchen der öffentlichen Wahrnehmung, von dem wir alle ein gutes Stück haben wollen. Und gerade das Ausweichen auf digitale Formate aus den Gefilden der üblichen wie Zeitungen, Bildungsveranstaltungen etc. stellt keine Erweiterung dar, sondern eher eine Verlagerung dieses Kampfplatzes. 

Vielleicht ist es ein gemeinsames Ringen der Großorganisationen, die den Geist hochhalten wollen, um die große Erzählung.


Mit Dank für die Anregungen, Siegfried


 

Im April 2022

Liebe Mareike, liebe Mitlesenden,

in diesem Briefwechsel geht es um „die großen Fragen“ und ich nutze ihn, einen weiteren Gedanken aufzunehmen, den Du mir zugeworfen hast. Seit ein paar Wochen trage ich ein Blatt Papier mit mir herum, auf dem ich Deine Fragen ausgedruckt habe, die „das Paradiesische“ umkreisen. Manchmal ist es einfacher und anregender, ein paar Gedanken und Zeilen nicht nur als Datei zur Verfügung zu haben, sondern ganz real und haptisch in der Hand zu halten und sozusagen zu meditieren. 

Es sind viele Fragen und es fällt mir nicht leicht, sie zu strukturieren – und erst recht nicht, sie zu beantworten. Aber ich finde es von Mal zu Mal wertvoller, bei der Frage nach den „großen Erzählungen“ nochmals genauer hinzusehen, ob wir – individuell und ebenso gesellschaftlich – eine Paradiesvorstellung haben und wie wir mit dem Spannungsfeld zwischen unserer Sehnsucht nach paradiesischen Verhältnissen und den Zwängen des Faktischen und damit unserem prosaischen Alltag umgehen.

Aber zum Einstieg vielleicht nochmals Deine Fragen, (die ich hier reinkopiere): „Wie kommt es, dass wir manche Zustände als paradiesisch empfinden? Ist es das Neue? Das Unbekannte? Das Unerwartete? Das Erträumte?

Ist es die Flucht aus der Realität? Ist es ein Empfinden, das wir haben, weil es nichts Alltägliches ist? Wenn es auf einmal zur Realität werden würde, was dann? Hätten wir dann immer noch das Gefühl vom Paradies oder geht es dann einfach in unseren Alltag über? Wie lange kann man den Zauber aufrecht halten? Wollen wir überhaupt, dass etwas Derartiges Alltag wird? Kann es das überhaupt?

Man träumt ja nur vom Paradiesischen, weil es unwirklich ist, oder? Oder ist man überhaupt bereit, Träume Wirklichkeit werden zu lassen?

Um es gleich vornweg zu sagen: Ja, davon bin ich ganz überzeugt, persönlich (oder auch psychologisch) brauchen wir ganz dringend und lebensnotwendig die Überzeugung und das damit verbundene Gefühl, dass es für uns „paradiesische Zustände“ gibt. Sie sind das nötige Gegenbild zum Alltag, Motivation und Sinngebung. Ohne die Momente des Glücks, des Friedens und der Liebe (mit dem Gefühl, geliebt zu werden und zu lieben) würden wir in Lethargie verfallen, in Stagnation, Hoffnungs- und Antriebslosigkeit. Der Traum davon und das Streben nach diesem Gefühl, das wir als paradiesisch beschreiben, gehört zu unserer DNA und das völlige Aufgeben würde uns krank machen. Und ich befürchte, dass in diesem skizzierten Sinne viele Menschen auch krank (geworden) sind. Weil sie immer wieder erlebt haben, „aus dem Paradies vertrieben“ zu werden und ihnen die Kraft fehlt, für ihren Traum zu kämpfen. Jedem Menschen wünsche ich dieses Gefühl, Momente des ungetrübten Glücks zu erleben und die Kraft, dafür auch zu kämpfen. (Als Geschenk, als Fügung, als Schicksal.)

Was mich umtreibt ist die Frage, ob wir auch eine geteilte Vorstellung von paradiesischen Verhältnissen haben: Gibt es jenseits der persönlichen Lebenserfüllung eines glücklichen Lebens auch eine gemeinsame Vorstellung einer paradiesischen Gesellschaft und Lebensweise? Und eben nicht nur in einem imaginären jenseitigen Leben, sondern in einem gestaltbaren Hier und Jetzt? Wie könnte heute ein Paradies aussehen, an dem Menschen gemeinsam bauen: ein Schlaraffenland, Utopia?

Nun bin ich noch längst nicht fertig, Deine Fragen „zu meditieren“. Daher für heute mein herzlicher Dank für die Anregung, bei diesem Briefwechsel über das Paradies nachzudenken – ich bin noch dran

 

Mit herzlichen und dankbaren Grüßen, Siegfried

 

Ende Mai 2022
 

Liebe Mareike, liebe Mitlesende,

 

Danke, dass Du den Faden wieder aufnimmst und mich damit bewegst, weiter über unsere Vorstellung vom Paradies nachzudenken. Meine letzten Gedanken liegen einige Zeit zurück (Tagebuchgedanken vom 2. April) und wenn ich Dich richtig verstehe, bleibst Du bei diesem individuellen Fokus und öffnest die Frage nach der persönlichen Entwicklung und Veränderung … ich kopiere Deine Antwort hier noch rein:

 

Ich glaube nicht, dass man das Paradies und die damit verbundenen Gedanken, Zustände oder gar Wünsche verallgemeinern kann. Für eine kleine Gruppe mag es funktionieren, aber für alle Menschen sicher nicht. Zu sehr weichen doch Wünsche ab, sind zu individuell. Sei es das Leben an sich.  Die Lebensumstände allgemein. Die Arbeit, Religion. Sicherlich wünscht sich jeder Frieden und ein freundliches Miteinander, aber das schon als Paradies zu sehen?  Das wären dann eher paradiesische Zustände. Aber das Paradies ist für mich eher das Ultimative, das non plus Ultra, etwas, was man nicht mehr steigern kann. Einfach das Beste, das möglich ist.

Ich denke, der Gedanke oder Traum vom Paradies ist und bleibt für jeden sehr individuell. Was für den einen perfekt ist, ist für anderen ganz anders, vielleicht sogar das Gegenteil.

Ich finde die Frage interessant, inwiefern sich das Paradies für einen jeden selber wandelt, im Laufe des eigenen Lebens. Sicherlich hat man mit 20 eine andere Vorstellung als mit 50 oder 60. Im Laufe des Lebens macht man Erfahrungen, geht den Weg vielleicht in eine andere Richtung als man dachte und schon befindet man sich ganz woanders.

Ist das dann nun Vorbestimmung? Schicksal? Können wir uns vielleicht dem großen Ganzen gar nicht entziehen? Folgen wir dann dem Weg oder werden wir unbewusst gelenkt?

Aber das wären vielleicht neue Fragen…

 

Deine Trennung der beiden Begriffe – Paradies und „paradiesische Zustände“ halte ich für sehr hilfreich. Denn meine Fragen nach der Verallgemeinerung und damit einer übergreifenden und von vielen Menschen geteilten Vorstellung vom Paradies rücken ihn näher an den Begriff der Utopie. Irgendwann würde ich da gerne nochmals darauf zurückkommen. Denn ich glaube weiterhin, dass es eine vermittelbare und damit allen Menschen zugängliche Utopie eines vollendeten Lebens gibt -  und als Triebfeder gemeinsamen Handelns auch braucht. Nur noch kurz: Neben der Einsicht, dass wir einen Ausgleich und damit ein neues Verständnis der Einheit von Mensch und Natur benötigen, bleibt nach meiner Meinung eine gemeinsam getragene Vorstellung, dass es eine Organisation des menschlichen Zusammenlebens geben könnte, die von Solidarität, Achtung, Wertschätzung und damit Liebe geprägt ist. In allen Religionen gibt es wunderbare Erzählungen darüber, dass Menschen befreit von den zerstörerischen Antrieben wie Habgier, Hass etc. zu einem Paradies finden können, das von Liebe und Wohlergehen aller geprägt ist. Und Du schreibst zurecht … das wollen ja irgendwie alle – „Frieden und ein freundliches Miteinander“ – aber inwieweit kann es auch zum handlungsbestimmenden Leitbild werden? Wo kann ein utopisches Bild eines guten Lebens (wie im Konzept des buen vivir im lateinamerikanischen Verständnis) für Alle auch dazu führen, gerechtere Strukturen zu schaffen. Wie kann es Menschen mobilisieren, sich nicht nur für das eigene Wohl einzusetzen, sondern für das größtmögliche Wohl der größtmöglichen Anzahl von Menschen weltweit? Da bin ich immer noch bei meinen Fragen nach den großen und menschenbewegenden Erzählungen, die wir irgendwie nicht mehr haben.

Aber zurück zu Deinem individualistischen Blick, den ich teile: Das Glück und die Erfüllung und damit das eigene Paradies als Idealvorstellung des eigenen Lebens ist sicher so vielfältig wie es die Menschen selbst sind. Und in der Tat – in diesen Vorstellungswelten kann das Paradies des einen, sogar die Vorstellung der Hölle des anderen sein. Und zweifelsohne ändern sich diese Vorstellungen im Laufe der eigenen Biographie mitsamt ihren Lebensabschnitten. Die wenigsten Menschen dürften mit 20 den gleichen Erwartungshorizont haben als mit 50 oder 80 Jahren. Allein die Glücksmomente im Spannungsfeld von einem geselligen oder einem einsamen Leben, ändern sich je nach Lebensumständen.

Ob nun diese Veränderung auch etwas mit Vorherbestimmung und Schicksal zu tun hast, wie Du vermutest? Ich meine, das ist ein sehr fragiles Wechselspiel. Zum einen orientieren wir uns sicher an Vorstellungen von einem guten Leben, während wir unsere Erfahrungen damit abgleichen und gleichzeitig das Idealbild auch ändern, das die Orientierung vorgibt. In der Reflexion geben wir die Puzzlesteine der Begegnungen, Erfahrungen und Gedanken in das größere Bild des Lebens und seiner Sinnstiftung. Und dabei können wir uns dem „großen Ganzen“, wie Du schreibst, nicht entziehen. Ich selbst kann mir nicht vorstellen, woher man ohne eine religiöse Grundierung und damit einem Urvertrauen in die Sinnhaftigkeit des Daseins überhaupt, nicht einem radikalen Schicksalsglauben verfallen sollte, der schließlich in Fatalismus bzw. Determinismus und somit Nihilismus endet. Das ist nun wirklich eine andere Frage – aber sie hat weiterhin mit den großen Erzählungen zu tun, in die wir unsere kleine Lebensgeschichte hineinweben.


To be continued...