Gedankentagebuch 2024 - September
oder Tagebuchgedanken als Ideen, Reflexionen, Gedichte, Kurzgeschichten, Zitate ...
Donnerstag, 26.9. - Matrjoschka
Matrjoschka heißen die russischen Puppen und eine davon habe ich mir als typisches Souvenir von meiner ersten Reise nach Russland mitgebracht. Es gab diese Schachtelpuppen in unterschiedlicher Ausführung, mit fünf oder sieben oder noch mehr ineinander geschachtelten Puppe und neben der traditionellen Bemalungen als Mutter mit Töchtern und am Schluss einem Kind bzw. Säugling, die sich alle ähnlich sahen, gab es bereits die symbolischen mit dem damals regierenden Jelzin, in dem versteckt und ineinandergeschoben schließlich Stalin, Peter den Großen oder wahlweise der Zar oder Iwan der schreckliche und Lenin steckte.
Die Botschaft war also klar: es gilt den Kern der Person und sein Wesen zu erkunden, zum Inneren des Menschen vorzudringen und eben auch die schöne Erinnerung, dass wir alle zu Generationen gehören, in unseren Lebensphasen geprägt bleiben von unserem inneren Kind.
Als Student könnte ich mir nur die einfachste leisten, also die fünffache und traditionelle Ausführung. Und bereits kurz nach dem Kauf ließ sich die äußerste Pupe nur sehr schwer öffnen, was ich damals allein dem günstigen Preis und der touristischen Massenproduktion und weniger einer versteckten Symbolik zuschrieb. In den darauffolgenden Jahren erlosch das Interesse an dieser Figur, nicht nur bei mir, sondern auch bei Freunden und Bekannten, welche sie bei Besuchen im Bücherregal entdeckten. Wahrscheinlich lag es daran, so dachte ich mir, dass es ab den Neunziger Jahren die Puppen immer mehr auch in Deutschland gab und es außerdem nicht mehr so exotisch war, nach Russland zu reisen und selbst neben Wodka und Krimsekt auch eine Matrjoschka mitzubringen.
Meine Matrjoschka lässt sich mittlerweile überhaupt nicht mehr öffnen. Und es interessiert letztlich auch niemand, was sich hinter der ersten sichtbaren Oberfläche verbindet. Diese äußerste Holzfigur ist allein ganz nett anzusehen und gefällig. Und ich selbst befürchte, dass es die Anwendung von zumindest leichter Gewalt bräuchte, sie zu öffnen und mögliche Geheimnisse zu ergründen. Vielleicht würde die Figur dabei Schaden nehmen und kaputt gehen.
Juli 2024
Samstag, 6.7. - Reisegedanken bei der Rückkehr
Neue Gedanken oder allgemeiner ein anderes Denken außerhalb eingespurter Wege und vor allem Erkennen wie Verstehen benötigen einen Raum ohne technische Geräte, ohne permanente Verfügbarkeit von Informationen, aber auch ohne die Erreichbarkeit für andere.
Immer wieder diesen anderen Bereich dazwischen erkunden, wo wir Neues eröffnen und ermöglichen, - wenn wir uns darauf einlassen und diesen Zwischenraum zwischen dem Eigenen und dem Anderen, dem Vertrauten und dem Fremden betreten. Sorgsam sollten wir sein für diese Fugen zwischen unseren Welten. Fugen müssen elastisch bleiben und wie bei einem Mosaik die Verbindung zwischen den einzelnen Steinchen schaffen und dabei auch die Kanten und Ecken, die Bruchlinien überbrücken.
Und dann wird etwas Größeres geschaffen. Eben wie bei einem Mosaik. Oder einer Fuge von Johann Sebastian Bach und dabei erinnern wir uns an die andere Bedeutung des Wortes Fuge, der künstlerischen Gestaltung und Komposition in ihrer Schönheit.
Demut kann man in einem Land lernen, in dessen Städte Millionen Menschen leben. Und in jedem Antlitz leuchtet auf das Göttliche, wenn wir es sehen wollen.
Wir können getrost den Mantel der Überheblichkeit ablegen, der uns sonst vor Missachtung und Geringschätzung zu schützen verspricht.
Einfach bleiben, an dem einen Ort, bei sich selbst, ohne die Gedanken zu ordnen und zu steuern. Und die Seele nachkommen lassen. Endlich.
Gedankentagebuch 2024 - Juni
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Samstag, 22. Juni 2024 - Lange nichts geschrieben ins Gedankentagebuch
Irgendwie war Ebbe ... in diesem Gedankentagebuch, - weniger in den Gedanken. Aber die Gedanken wurden nicht mehr festgehalten, gebannt in diesem Tagebuch, sondern nur als Stichpunkte mit wenigen Strichen in einem Notizheft festgehalten.
Ab sofort soll es monatlich Einträge geben, um wieder den Gedanken aufzunehmen in ein Tagebuch des eigenen Denkens als traumwandelndes Beschreiben der Welt.
Freitag, 21. Juni 2024
Manchmal öffnet sich ein Raum, zwischen zwei Menschen, der zuvor nicht da war. Wie ein Zauberland beginnt es und eröffnet einen neuen Zugang zu einer Dimension, die beide zuvor nicht kannten. Im Gespräch tasten sich beide hinein ins Unbekannte, staunend und fast ein wenig ungläubig und im Zuhören gewinnen sie die Zuversicht, dass der unbekannte Boden trägt, das wunderliche Terrain nicht wankt und erst recht nicht als Treibsand sich erweist.
Es ist auch nicht einfach nur ein Aufeinanderzugehen, sondern eher ein gemeinsames Erschließen des Raumes zwischen ihnen.
Manchmal sucht man das Verständnis des anderen und letztlich die Absolution, das Freisprechen von den eigenen Zweifeln, die man sich selbst nicht nehmen kann. Vielleicht auch einfach das Lösen der Fesseln der Vergangenheit, das Erlösen von den alten Dämonen der eigenen Entscheidungen.
Und sachte schließt man wieder die Tür zu dieser Welt des Gegenüber, denn man will ihn nicht erschrecken und nicht zurückweisen aus dem gemeinsamen Raum.
Gedankentagebuch 2024
oder Tagebuchgedanken als Ideen, Reflexionen, Gedichte, Kurzgeschichten, Zitate ...
Samstag, 9. März 2024 - In den Bergen
In den Bergen hat man immer einen Anlass, an das Ewige zu glauben und vom Göttlichen berührt zu werden.
Samstag, 24. Februar 2024 - Ukraine
Zum 24.2. nur der Gedanke: Wer die Menschen mag und jeder und jedem Einzelnen ein gutes Leben wünscht, der kann nicht anders, als an manchen Tagen unendlich traurig zu sein.
Dienstag, 30. Januar 2024 - Dia da Saudade
Gerade lese ich, dass am 30. Januar der „Dia da Saudade“ in Brasilien gefeiert wird. Schlecht übersetzt mit „Tag der Sehnsucht“, denn das Wort gehört zu den Geheimnissen der portugiesischen Sprache und ihrer Menschen. Saudade ist diese ganz eigene melancholische Sehnsucht nach einem Du, nach einem Ort, nach einem Moment oder wie auch immer nach einem Zustand, der entrückt und weit weg ist, ob nun räumlich oder zeitlich.
Dia da Saudade – ein Tag der Melancholie jenseits der Trauer!
Samstag, 27. Januar 2024 - Holocaustgedenktag
Gedankenverloren komme ich zurück von der Veranstaltung zum Holocaustgedenktag, den man überschrieben hatte als Erinnerungsveranstaltung an die Opfer des Nationalsozialismus.
Wie schwer ist es, das Leid aller zu sehen, die aufgrund der Menschenverachtung und des tödlichen Wahns einer unfaßbaren Gewalt bis zum Tod ausgesetzt waren?
Vielleicht gelingt es nur im persönlichen Gespräch mit den Angehörigen der verfolgten, gedemütigten, ermordeten Opfergruppen. Und kollektiv wird es einfach schwierig, ein „sowohl als auch“ zu formulieren oder das lateinisch gleichwertige „et et“ zu bemühen.
Zuhause nehme ich mir das Buch von Charlotte Wiedemann aus dem Schrank: „Den Schmerz der Anderen begreifen“. Es ist ein angenehm fragend, tastendes und beschreibendes Buch, das keine voreiligen und schnellen Antworten formuliert, sondern Fragen. Und dabei sind es einige Fragen, die man sich selbst nicht stellen mag. So bspw. hinsichtlich der weltweiten Erinnerungskultur und der Konfrontation mit dem Leid die Frage „Gelten aus deutscher Perspektive womöglich nur die jüdischen Opfer als ein gleichwertiges Gegenüber?“ Und damit allgemeiner und bis in die Gegenwart reichend formuliert: Welchen Toten, welchen Leid und Massenverbrechen schenken wir unsere Empathie?
In ihrem Buch geht sie mit dieser Frage unterschiedliche Katastrophen und unser Erinnern durch. Koloniale Herrschaft wird betrachtet, darunter die rund eine Million Tote in Afrika durch das Deutsche Reich. Für den Genozid im Kambodscha findet sie die betreffende Bezeichnung als „Menschheitsverbrechen im schlecht beleuchteten Hinterhof der Weltgeschichte“. Sie sucht nach den Spuren der Erinnerungskultur im westfälischen Stukenbrock, wo Tausende sowjetischer Kriegsgefangene den Tod gefunden haben und beleuchtet all die Schrecken und das je eigene Erinnern im Baltikum.
Ihre Frage – wie schenken (und leben wir als Menschheitsfamilie) Empathie und wie werden wir dem Schmerz aller gerecht, sie klingt noch nach.
Freitag, 26. Januar 2024 - Versöhnung durch Erzählen
Die eigene Geschichte erzählen, sich selbst immer wieder und möglicherweise auch anderen, um sich mit sich selbst zu versöhnen.
Gedankentagebuch 2023
oder Tagebuchgedanken als Ideen, Reflexionen, Gedichte, Kurzgeschichten, Zitate ...
Mittwoch, 27.12.2023
Zwischen den Jahren sich häuten wie Reptilien, die eine alte Haut abstreifen und sich in ihrer neuen Haut wohlfühlen und ein nächstes Leben beginnen. Und alte Gesetze, die in den innersten Kammern des Herzens wie eingebrannt sind, endlich auflösen, aufgeben oder sogar verfluchen, wie es Friedrich Schiller so wunderbar formuliert hatte: „Fluch über das Gesetz, das zum Schneckengang verurteilt, was zum Adlerflug geworden wäre!“
Sonntag, 17. Dezember – die Hölle, das sind die Anderen
Mir fällt der Satz aus dem Theaterstück „Geschlossene Gesellschaft“ wieder einmal ein: „Die Hölle, das sind die Anderen.“ Und wie oft habe ich schon an ihn gedacht und in Gedanken zustimmend genickt. Aber, wie Sartre im Nachwort betont, das Theaterstück handelt von Toten. Und für die Lebenden gilt auch der Umkehrsatz: Der Himmel, das sind die Anderen!
Sonntag, 10. Dezember – Einzigartigkeit
Was ich wünschen würde: dass jeder Mensch einen anderen findet, der ihm sein Menschsein zuspricht. Seine unbedingte Würde und Einzigartigkeit.
Sonntag, 3. Dezember – Jean Paul
Derzeit übernachte ich in einem Haus, in dem 1794 auch Jean Paul eine Nacht auf der Durchreise nach Bayreuth verbrachte. Eine gute Gelegenheit, einige seiner Texte rauszuholen ... denn auch wenn seine Romane nicht unbedingt leichte Lesekost sind, sie stecken voll wunderbarer Aphorismen.
Sein Satz über Bayreuth ist übrigens auf jede andere Stadt anwendbar: „Bayreuth hat den Fehler, dass zu viele Bayreuther darin wohnen“.
Und wunderbar sind allzumenschliche Beobachtungen wie: „Unter den Menschen und Borsdorfer Äpfeln sind nicht die glatten die besten, sondern die rauhen mit einigen Warzen.“
Vielleicht liegt es an diesem Haus, dass es mir genau so ergeht wie ihm: „Durch die Nacht des Schlafes fliegen schimmernde Insekten von Gedanken und Träumen.“
Gerne würde ich mich mit ihm unterhalten – über die Lektüre seiner Bücher hinaus. Auch er lebte in bewegten, ebenso mörderischen Zeiten und war als Gedankensammler ein Vorbild: „Eine Maus kann Gedanken fressen, die nie wieder kommen; sie kann die Ewigkeit bestehlen.“
Dienstag, 28. November – Stricken am eigenen Narrativ
Narrative oder Erzählungen geben dem eigenen Leben einen Rahmen. Einen sinnhaften Zusammenhang. Wie Strickmuster. Vielleicht sehe ich deshalb gerne beim Stricken zu, weil mir diese Metapher so gut gefällt und ich oft im Anfangsstadium nicht erahnen kann, was aus dem zuweilen auch wunderschönen kleinen Muster einmal werden wird: ein Schal, ein Pullover, eine Socke? Und ebenso können Maschen fallen gelassen werden und am Ende eine Idee nicht aufgehen, das noch so Gelungene im Kleinen kein Kunstwerk im Ganzen werden.
Die zwei Augen der Seele
Im dreizehnten Jahrhundert nutzt Johann Tauler das Bild der zwei Augen der Seele. Mit dem linken Auge betrachten wir die Welt, die uns umgebende Realität, mit dem rechten Auge suchen wir das Ewige:
„Soll die Seele mit dem rechten Auge in die Ewigkeit sehen, so muss das linke Auge sich all seines Tuns enthalten und begeben und muss sich halten, als ob es tot sei. Soll dann das linke Auge seine Werke nach außen üben, nämlich wirken mit der Zeit und Kreatur, so muss auch das rechte Auge an seinem Werk behindert werden, das ist, an seiner Beschauung. Darum, wer das eine haben will, der muss das andere fahren lassen. Denn es kann niemand zweien Herren dienen.“ (Johannes Tauler: Theologica Germanica. Eine deutsche Theologie, Insel Verlag Leipzig 1922, Seite 102.)
Aushalten, einfach Aushalten
Vielleicht ist das die größte Herausforderung, nicht einmal heroisch gedacht und auch nicht in philosophischer Verklärung als stoisch benannt. Sondern ruhig, besonnen und gedanklich eingeübt als Haltung, einfach auszuhalten. Die Weite der Welt und der menschlichen Beschränkung eingedenk.
Zweifel
Immer waren mir Menschen suspekt, die sich einer Sache und erst recht ihres Glaubens unerschütterlich sicher waren. Wer zu sicher glauben konnte ohne einen Hauch des Zweifels, aber ebenso wer felsenfest an nichts glauben wollte, wurde mir im vertiefenden Gespräch fremd. Vielleicht waren mir daher die Agnostiker so sympathisch, seitdem ich als Jugendlicher im Unterricht von jenen Menschen hörte, die keine Ungläubigen waren und alles verneinten, aber sich auch nicht sicher fühlten, zu glauben. Es erschien, als wären sie in diesem Zwischenbereich des Möglichen und damit ausgestattet wie nach einer Schutzimpfung, wo man sich zwar noch anstecken konnte und doch eine Immunisierung vor Fanatismus hatten.
Vertrauen auf das Unverfügbare
Und immer wieder darauf vertrauen, dass es nicht von mir abhängig ist, das Glück und die Freude der anderen. Und auch nicht die Traurigkeit.
Immer wieder vertrauen, dass es ein großer Weltgeist gut mit uns meint und wir uns nur Gutes zusprechen können, bene dicere, dem anderen Segen wünschen und dadurch auch Segen sein.
Allein darin ist zu finden eine neue Form des Gebets, wenn die alten Formeln nicht mehr tragen.
Worte will ich Dir wie Blumen pflücken.
Das Rot der Liebe ist immer unsagbar prächtig,
auch wenn es noch so unterschiedlich ausfällt.
Ein zartes Blau ist auch dabei,
Vom Glauben an das Wunderbare kündend.
Das ganz eigene Weiß der unbekannten Blume,
es erinnert an das Zarte, unberührt Fragile.
Und auch die gelben Töne, frühlingshaft protzend,
sie stören fast, aber machen das Ganze bunter.
Und immer Grün, die Hoffnung auf Neubeginn,
in allen Tönen füllt sie die Zwischenräume.
So einen Frühlingsstrauß, am Wegrand gepflückt,
Möchte ich Dir mit Worten binden.
Selektive Wahrnehmung im Rückblick
Darin besteht eine Faszination unseres Seins: Im Gefühl zu leben, dass sich auf dem Weg durch den Alltag nichts verändert und dann im Rückblick festzustellen, dass alles anders geworden ist.
Lebensphasen
Gerne hätte ich in jeder Lebensphase und damit Stufe meiner Entwicklung wenigstens einmal das Wissen der nächsten Stufe gehabt. Immer bin ich in Gedanken einen Schritt zu spät, so fühlt es sich zumindest an. Jetzt verstehe ich meine 40er Jahre und erkenne die Sehnsucht der späteren Jugend. In meinen 40er Jahren hatte ich allmählich meine 30er Jahre verstanden und damit die späten Auseinandersetzungen und das innerliche Aufbegehren. Und jetzt würde ich gerne für einen kurzen Moment beim Erkennens am Beginn meiner 60er Jahre stehen, die ich hoffentlich erleben werde, und rückblickend meine jetzigen 50er verstehen und die nötigen Konsequenzen erkennen können.
Natürlich kann das Leben nur nach vorne gelebt und nur im Rückblick verstanden werden. Aber der berühmte Kairos, der rechte und vor allem mögliche erste Moment des Erkennens von Zusammenhängen, die sich Stück für Stück und damit auch Tag für Tag entwickeln, wäre vielleicht in manchen Phasen auch früher möglich gewesen. Vielleicht auch jetzt. Es ist nicht mehr nötig, das Reifen des zornigen alten Mannes in mir zu spüren und dann erst nach vielen Monaten erkennen zu dürfen, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
Die Zeit dafür ist zumindest reif.
Kurzgeschichte: Ich kann doch nicht trommeln
Natürlich waren wir alle ein wenig aufgeregt, denn ein Kamerateam hatte sich angekündigt, um über unser Projekt in den Abendnachrichten zu berichten. Unsere Arche in den Nachrichten! Das war schon etwas Besonderes und wir waren gespannt, was uns konkret erwartete. Bei dem internationalen Jugendprojekt „Arche Noah - gemeinsam die Welt gestalten“ nahmen Jugendliche aus 24 Nationen und von allen Kontinenten dieser Welt teil. Wir hatten intensiv diskutiert, wie wir uns die Zukunft dieser gemeinsamen Welt vorstellen, benannten die unterschiedlichen Herausforderungen, die aus der Erfahrung von Alex aus Indonesien oder Harun aus Jordanien anders aussahen als die der jungen Brasilianerin Sarah oder Rita aus Zimbabwe. Davon wollten wir dem Journalisten berichten. Außerdem hatten wir uns viel über unsere kulturellen Prägungen unterhalten und zum dritten tauschten wir uns auch über die Vielfalt von Spiritualität aus und gestalteten ganz unterschiedliche „morning and evening prayers“ mit Musik und Meditation. Letzteres, so meinte schließlich der Regisseur, würde ihn besonders interessieren. „Wissen Sie, wir brauchen Bilder, starke Bilder!“ Und so filmten das Kamerateam viel beim gemeinsamen Essen der unterschiedlichen Speisen, freuten sich, dass Chinesen versuchten, bayerische Knödel mit Stäbchen zu essen und beharrten darauf, dass Josefine aus Südindien im bunten Sari gekleidet war und fragten, ob die deutschen Teilnehmenden nicht auch einheimische Tracht wie ein Dirndl oder Lederhosen hätten. Unsere Diskussionen, die brennenden Fragen der Zeit, die wir diskutierten, interessierten dagegen überraschend wenig.
Und schließlich gab es die Filmaufnahmen in der Kapelle. Fredericke aus Würzburg, die ein Jahr als Freiwillige in Südafrika gelebt hatte, spielte wie so oft zum Beginn dieser Abendreflexionen und Gebete die Trommel. Da unterbrach der Regisseur begeistert: „Das klingt wirklich wunderbar und das sind wunderbare Bilder - Junge Menschen schwarz und weiß, dann auch noch aus China und Europa, so alles, ganz stark! Bleiben sie so meditativ im Kreis sitzen und zünden sie vielleicht noch ein paar Kerzen mehr an, dann könne man das Licht löschen. Und wäre es nicht möglich, dass Sie trommeln?“ fragte er abschließend und zeigte auf Regina. Die junge Frau aus Tansania sah ihn völlig entgeistert an und antworte lachend: „Ich kann doch überhaupt nicht trommeln.“ Aber der Regisseur beharrte darauf, die schöne junge Frau aus Afrika mit der bunten Trommel lieferte einfach die besten Bilder. Und so brachte unsere - aus dem fränkischen Umland stammende Friederike der aus der Millionenstadt Daressalam stammende Regina in der Drehpause ein paar Trommelschläge bei.
Und in den Abendnachrichten sah man einen Bericht über das beeindruckende Arche-Projekt, das Menschen aus so unterschiedlichen Kulturen zusammenbringt und dabei auch eine Afrikanerin etwas verschmitzt lächelnd beim Trommeln.
Kurzgeschichte – Schönheit im Auge des Betrachters
„Sag mal, findest Du sie nicht eigentlich unbeschreiblich schön?“ fragte er mich recht unvermittelt, nachdem wir uns nach einer längeren Gesprächspause zugeprostet und einen Schluck aus unseren Gläsern genommen hatten. Nachdem seine Freundin längst das Lokal verlassen hatte, waren wir noch für ein letztes Getränk an den Tresen gewechselt.
Ein idealer Platz, um nicht viel reden zu müssen. Man sah sich nicht dauernd in die Augen, sondern gemeinsam in die gleiche Richtung, was Freunde grundsätzlich auszeichnet und hin und wieder konnte man ein Wort an den anderen richten.
Nun stand dieser Satz im Raum, auch wenn mein Gegenüber wohl nicht eine sofortige Antwort erwartete, denn beide sahen wir wieder zum Tresen und unsere Blicke trafen sich nur verschwommen in der widerspiegelnden Wandverkleidung. Auch wusste ich, dass allein in der Formulierung schon die einzig mögliche Antwort enthalten war: in der vermeintlichen Frage verbarg sich ganz offensichtlich die freundschaftliche Bitte um Bestätigung und Bekräftigung. Und so fuhr mein Freund auch fort, ohne auf eine Antwort zu warten. „Für mich ist sie einfach der Inbegriff der Schönheit,- Du weißt, was ich meine. Wenn jemand von Schönheit spricht, dann denke ich sofort und nur an sie. Ich habe ihr Lachen im Ohr und ihre wunderbare Stimme begleitet mich, wenn ich mir vorstelle, was sie wohl zu diesem und jenen sagen würde. Ich liebe ihr bezauberndes Lächeln und auch ihre kleinen Lachfalten, die sich dann leicht abzeichnen, wenn sie mich liebevoll anblickt. Sie hat wunderschöne Ohren, die ich gerne mit meinen Händen suche unter dem duftenden, kastanienbraunen Haar. Und natürlich versinke ich in ihren Armen, die mich halten und an ihrer Brust, die mir manchmal Geborgenheit schenkt wie ein kleines Kind. Und wie sehr genieße ich das Eintauchen in die Lust, wenn ich nicht nur die Lippen bedecken möchte mit Küssen, sondern...“
„Wollt ihr noch was trinken?“ fragte just in diesem Moment Ali, der Wirt. Ich bejahe für uns beide und sehe mein verklärt blickendes Gegenüber an.
Alle meine Gedanken, wie flüchtig Schönheit immer ist, wie scheu und gebrechlich sie von jeher war und dass sie ohne Bezugsgrößen bzw. Vergleiche und ebenfalls ihr Gegenteil nicht auskommen kann und dennoch ... Und alle meine Gedanken, dass Schönheit nur zu einem Teil objektivierbar ist, sondern bekanntermaßen im Auge des Betrachters liegt, dass Schönheit immer das Innere und äußere Auge erfüllen und sich gegenseitig bedingen, verschwanden auf der Stelle, als ich seine Augen sah. Nach dem Lobpreis ihrer Schönheit leuchteten sie und es lag ein Lächeln auf seinen Lippen.
„Ja“, sagte ich zu ihm und hoffte insgeheim, dass sie nur wenigstens ansatzweise sich selbst so schön fühlen konnte, wie er sie mit seinen Augen sah, „sie ist wirklich wunderschön“.
Kurzgeschichte – Mörder im feinen Anzug
Immer wieder denke ich an diesen gepflegten Herren, wenn ich von den furchtbaren Verbrechen in dieser Welt lese und mich Wut und Zorn erfüllt aufgrund der unerträglichen Ohnmacht der Opfer.
Es war ein regnerischer Tag, dieser 11.3.2010, als wir im Eingangsbereich am Oude Waalsdorperweg 10 in Den Haag erfuhren, dass wir der geplanten Sitzung des Internationalen Strafgerichtshof nun doch nicht beiwohnen können. Es wurde aber durch Henni organisiert, dass wir ersatzweise in den Besucherbereich des Sondertribunals für Sierra Leone durften, das von Freetown hierher verlegt worden war.
Auch wenn uns eine Glaswand trennte, so saßen wir doch sehr nahe den Anklägern, den Richtern und links von mir dem Angeklagten gegenüber. Bereits sein Auftreten hat meine ganze Aufmerksamkeit auf sich gezogen: im gemessenen Schritt betrat Charles Taylor den Gerichtssaal, sah sich sehr selbstbewusst um und strahlte Zuversicht und Souveränität aus. Er war in feinen Zwirn gekleidet, die goldgelbe Seidenkrawatte im tadellosen doppelten Windsorknoten war bestens auf den klassisch geschnittenen Anzug in Anthrazit abgestimmt und auch der sorgsam gepflegte Bart unterstrich seine gepflegte Erscheinung. Was mich allerdings noch mehr faszinierte, waren seine wachen Augen hinter der randlosen Brille und seine ruhige Stimme. Dagegen wirkten die Ankläger ungehalten, nahezu aggressiv und aufgeregt. Denn auch wenn die Fakten und auch die konkrete Zeugenaussage so deutlich auf den Tisch brachten, wie sehr der frühere Präsident Liberias in furchtbare Verbrechen verwickelt war, so wenig war im Detail einfach nachzuweisen, wieviel er selbst wusste und eben verantwortlich war. Auch wenn ich das afrikanische Englisch über die Gerichtsanlage nur schwer verstand, so ging es ganz detailliert um einzelne Vorgänge, wer also wann was gewusst und angeordnet hatte und der Angeklagte Ex-Diktator konnte schlichtweg souverän seine Verantwortung abstreiten. Diese Ruhe stand den aufgewühlten Anklägern gegenüber, die wohl darum wussten, wie schwer eine direkte Schuld nachzuweisen war.
Reportagen und Berichte, die ich in den kommenden Tagen las, wiesen zweifelsfrei nach, wie der Kriegsgewinnler Taylor die Todesschwadrone der Rebellen in Sierra Leone gegen Diamanten finanzierte. In diesem Bürgerkrieg wurden Zehntausende von Zivilisten verstümmelt, denen man die Gliedmaßen abhackte, systematisch Tausende Frauen vergewaltigt bzw. als Sklavinnen verkauft und Kinder entführt bzw. zu Soldaten abgerichtet. Die Zahl der Toten dieser Massaker liegen irgendwo geschätzt zwischen 50.000 und 200.000 Toten.
An diesem Tag spürte ich, wie abgrundtief Böses sich hinter feinen Manieren verstecken kann und wie sehr jenen die Hände gebunden sind, die ein faires und gerechtes Verfahren gegen mächtige und intelligente Massenmörder führen. Und ebenso war ich an diesem Tag überzeugt, dass die Anklage auf „Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in 11 Fällen“ wohl im Sande verlaufen würde.
In den darauffolgenden Jahren verfolgte ich von Zeit zu Zeit den Verlauf der zähen Verhandlungen auf www.charlestaylortrial.org und war sehr überrascht, dass der dann 65-Jährige im Jahr 2012 und schließlich endgültig bestätigt 2013 zu fünfzig Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Taylor war damit der erste Staatspräsident seit den Nürnberger Prozessen, der schuldig gesprochen wurde.
An diesen Mann im feinen Zwirn, der sich seiner Sache so sicher fühlte, erinnere ich mich seither immer wieder, wenn ich Nachrichten höre vom menschengemachten Leid der Welt.
Kurzgeschichte – Desire oder Gedanken über das Weltretten
Eigentlich wollte ich nur ein Bier trinken und mich gepflegt ein wenig mit mir selbst unterhalten. Das funktioniert am besten in der Stammkneipe am Ende unserer Straße. Und wie das bei guten Stammkneipen so ist, man fühlt sich nicht allein, wird aber trotzdem in Ruhe gelassen, wenn man ohne Begleitung dort ist. Ali reicht mir das Bier und ich proste ihm - und als er gleich wieder Richtung Küche verschwunden ist - auch mir selbst im Spiegel zu.
Ich sitze am Ende des langen Tresens und man kann sich dort zwischen den aufgereihten Gläsern hindurch im Spiegel sehen. „Müde siehste aus“, denke ich mir und füge im Selbstgespräch hinzu, „noch vor Jahren hat Dich eine anstrengende Woche nicht so erschöpft.“ Mein Spiegelbild pflichtet mir nickend bei und ich entdecke die Augenringe unter der randlosen Brille, die tiefen Lachfalten und auch die müden Augenlider eines Mannes in seinen fünfziger Jahren. Der angegraute Vollbart und die gelockerte und dadurch schräg sitzende Krawatte verstärkt noch den Eindruck, ein wenig derangiert zu sein. Aber, so sage ich entschuldigend vor mich hin: „Sind wir nicht alle müde geworden, haben die Ideale der Jugend nicht ihren Glanz verloren, die großen Erzählungen ihre Kraft eingebüßt und sind die Verheißung einer möglichen besseren Welt verschwunden, an der wir sinnvollerweise mitbauen wollten?“
In diesem Moment kommt auf meinem Handy die Frage rein, ob ich nicht mitmachen will bei einem Buch zum Thema „Desire“, in dem man die Kraft der eigenen Träume beschreibt.
Innerlich winke ich ab und bestelle wortlos ein zweites Bier. Und doch... vielleicht ist sie ja geblieben? Vielleicht gibt es da eine burning desire? Vielleicht ist es auch keine brennende Leidenschaft mehr, keine lodernde Hingabe an eine erfüllende Idee. Aber die Hoffnung, der Wunsch, das Begehren und die Sehnsucht nach einer besseren Welt ist doch geblieben. Und damit auch die Unruhe, die uns antreibt, die Augustinus so schön in seinen Bekenntnissen beschrieben hat: „Tu fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum donec requiescat in te.“ Wir sind auf Dich hin gemacht - also auf das Gute, das Schöne, die Liebe oder das Göttliche - und unser Herz ist unruhig, bis es Ruhe findet in Dir.
Auch wenn wir nicht mehr an den großen Masterplan glauben, keine große Erzählung uns beflügelt und uns die Hoffnung auf den allgemeinen Sieg der Menschlichkeit erfüllt. Im kleineren Radius bleibt uns der Antrieb, der Wunsch und die brennende Hoffnung, so ein kleines Mehr an Menschlichkeit, Liebe und Verständnis durch uns einzubringen und für und mit den Anderen zu schaffen. Und wir spüren, dass wir nicht wie in jungen Jahren die ganze Welt retten müssen, denn „wer ein einziges Leben rettet, der rettet die ganze Welt“ heißt es so wunderbar im Talmud.
Versöhnlich proste ich dem alten Mann im Spiegel zu, trinke den letzten Schluck und gehe ganz beschwingt und mit mir versöhnt nach Hause.
Zitat Dostojewski
Es gibt so Momente, an denen es glückt, einfach den Schalter umzulegen. Dostojewski hat den schönen Satz formuliert: „Erkenne, dass Du glücklich bist und ab diesem Moment wirst du es sein.“ Aber meistens ist der Schalter nicht so einfach zu betätigen und der Wechsel vom dunklen Blick auf das Leben mit seiner Last, den Unzulänglichkeiten und Beschränkungen auf den hellen Blick, der das Lebendige, die Kraft und die kleinen Wunder lenkt, einfach nicht möglich.
Manchmal reicht kein Kaffee, keine Meditation und keine gedankliche Fokussierung, aber manchmal ist der Schalter auch ganz leicht zu bedienen.
Kurzgeschichte: Corona positiv 2023
Wieder einmal schaue ich erwartungsvoll auf das kleine weiße Plastikteilchen mit der vorbereiteten Anzeige. Und ich bin trotz meiner Erkältung überrascht, dass sich bei der Markierung T ein roter Strich einfärbt. Bin ich wirklich nach rund einem Jahr schon wieder an Corona erkrankt und vor allem, was würde es bedeuten?
Nachdem sich auch beim Kontrollfeld ein deutlicher Strich zeigt, nehme ich mir meine Teekanne und das Handy und schleiche mich ins Bett. Um nicht in Selbstmitleid zu zerfließen und Husten, Schnupfen und ein wenig Kopfweh nicht als hypochondrische Vorboten des nahen Todes anzusehen, werde ich endlich meinem Freund in Sambia schreiben.
Father John hatte mir per Whatsapp mitgeteilt, dass er zum Jahreswechsel in einen benachbarten Distrikt gesandt wird, um dort als Pfarradministrator an der St. Francis Xavier Parish in Chilalantambo zu wirken. Der Ort mit rund zehntausend Einwohner liegt recht zerstreut an der M 11 von Choma kommend Richtung Kasenga. Und damit ähnelt er vielen Gebieten im südlichen Sambia, dem früheren Nordrhodesien, die ich einige Male besuchen durfte. Auch die kleineren Städte wirken dort wenig urban und erstrecken sich über weite Flächen. Bevor ich antworte, lese ich seine zurückliegenden Nachrichten - und viele weitere Mitteilungen gemeinsamer Freunde - nochmals und betrachte wehmütig und schockiert die Bilder: wehmütig, wenn sie die Landschaft mit Freunden und der unvergleichlichen Sonne Afrikas zeigen, schockierend wenn ich die Menschen in armseligen Kleidern, bei der Sozialstation und Essensausgabe sehe. In einer ersten Panik hatte man zu Beginn der Pandemie die kleinen Stände verboten, an denen üblicherweise ein wenig Obst, Gemüse, aber auch Öl, Mais und Kohle verkauft wurden. Damit, so schrieben unsere Freunde ganz lapidar, werden die Leute wenigstens nicht an Corona sterben, sondern einfach nur verhungern. Und während wir über Masken stritten, hatte man nicht einmal Desinfektionsmittel, während wir zwischen verschiedenen Impfstoffen auswählen konnten, nähte man Behelfsmasken und in manchen Distrikten blieben die Schulen einfach über ein Jahr völlig geschlossen. Für einen Moment bin ich voller Zorn über die Erkenntnis, dass uns eine Pandemie, die alle Menschen gleichermaßen betraf und gefährdete nicht enger zusammen führte, sondern die Kluft zwischen Arm und Reich nur vertiefte.
Nun gratuliere ich Father John endlich zur neuen Aufgabe und wünsche ihm alles Gute bei seinem Einsatz für die Armen. (In den ländlichen Gebieten liegt übrigens nach dem Human Development Index der UN in Sambia die Anzahl der Menschen, die unter der Armutsgrenze leben bei 76,6%)
Und was sollte ich Father John, meinem gleichaltrigen Freund, mit dem wir viel erlebt hatten und dem gegenüber ich in der Lebenslotterie einfach bei der Geburt ein besseres Los gezogen hatte, auch schreiben. Aber da er sich immer nach meinem Wohlergehen erkundigte, füge ich an, dass es mir soweit gut geht.
Kurzgeschichte: Bitte nicht verzetteln
Die Formulierung hat mir immer gefallen: „Pass auf, dass Du Dich nicht verzettelst!“ und zumeist war sie freundschaftlich, auch aufmunternd gemeint. Seit meiner Studienzeit begleitet mich dieser Rat, vor der Komplexität der Welt nicht zu kapitulieren, sich dabei aber auch nicht zu verlieren.Und ich erinnere mich dabei an die vielen Zettelkästen, die bei meinem akademischen Lehrer im Büro standen. Jeder Gedanke war dort einzeln auf einer Karteikarte formuliert und wartete wie die Perle auf eine Kette, um zu einem brillanten Ganzen zu werden - so nahmen wir es als Studierende zumindest an. Und natürlich gab es auch Kästen für ganz banale Dinge wie Literaturhinweise, Bücherverzeichnisse etc.
Ich hatte immer große Achtung vor diesen hölzernen Kisten mit ihren unzähligen Zetteln. Sie vermittelten mir das Gefühl, dass eben nicht nur die Fragen gut sortiert waren, sondern sich auch so die Antworten finden ließen, da das Wissen dort bestens zusammengetragen wurden.Und schmunzelnd erinnere ich mich auch an Frau W., die als Sekretärin beim Professor nebenan ihren (für sie frustrierenden) Dienst leistete, in dem sie zahllose Zettel für weitere zahllose Zettelkästen verfasste. Jeden Montag berichtete sie uns und der Kollegin vom (mangelnden) Erfolg ihres Lottoscheins und die beiden Sekretärinnen versicherten sich gegenseitig, sollte jemals eine von ihnen einen beachtlichen Lottogewinn machen, dann werden sie zu ihrem Chef gehen und die Zettelkästen einfach umdrehen und auf dem Boden ausleeren. Offensichtlich für sie die höchste Form vorstellbarer Rache.
Mittlerweile haben Dateien und Ordner auf diversen Festplatten und entsprechende Datenbanken längst die Zettelkästen abgelöst und zur Geschichte werden lassen. Manchmal denke ich noch beim Anblick zahlloser gelber Post-It-Zettel an Wänden oder auf Bildschirmen daran.Und mir fällt wieder ein, dass der Begriff "zetteln" nicht von kleinen Karten kommt, sondern von „zetten“, was soviel bedeutet wie „verstreuen“. Wer sich “verzettelt”, dessen Gedanken sind daher verstreut und er hat sein Ziel aus den Augen verloren und wer etwas anzettelt, der streut und verstreut bewusst (Des)Informationen. Der Ausdruck entstammt aus dem Weberhandwerk und es geht um die Aufbereitung einer Webarbeit, bei der man sich eben verzetteln oder gleichbedeutend, auch den Faden verlieren kann.
Heute habe ich erfahren, dass mein akademischer Lehrer (bereits vor Zeiten) verstorben ist und so musste ich an seine Ermahnung denken, dass ich mich nicht verzetteln solle. Gerne hätte ich seine Kästen in Verwahrung genommen. Soweit ich weiß, hat er nach der Pensionierungen nie mehr etwas geschrieben und so konnten - wenn überhaupt - die Zettelkästen nur Ordnung in seine Welt bringen, aber mir wären sie in manchen Momenten ein Trost.
Liebeslieder
Lass uns Liebeslieder singen,
hell und laut, bis erfüllt davon die Luft.
Lass uns Liebeslieder singen,
manchmal aus Lust und manchmal aus Trotz.
Lass Liebeslieder erklingen,
und wenn die Stimme versagt, dann summen.
Und lass verklingen die Lieder der Trauer,
auch die Melancholie lass für Zeiten ruhen.
Und vergessen wir die Lieder der Nationen,
und verbannen heroisches Geschrei.
Lass uns die Liebe in Liedern finden,
lass sie uns versuchen in Worte zu fassen.
Lass uns der Liebe gedenken, sie beschwören,
bis sich mit ihr erfüllt die Luft, wie Zeit und Raum.
Lasst uns Liebeslieder singen,
bis sie unser Herz erfüllen und unseren Geist,
Lasst uns Liebeslieder anstimmen immer wieder,
bis längst Geliebte einstimmen in diesen Gesang,
aber irgendwann auch Fremde sie singen,
und sie weitertragen als sphärischen Klang.
Kurzgeschichte: Unerzählte Geschichten des Krieges
Wir hatten reichlich getrunken, wie man das eben so macht beim Kartenspielen. Und irgendwann hatten auch wir langsam genug von Spiel und Bier, nachdem alle Kinder und Frauen längst ins Bett gegangen waren. Aber gerade der Älteste unter uns war an diesem Abend unermüdlich und brachte weit nach Mitternacht noch einen Schnaps zu einer letzten Runde. Als auch diese Karten gespielt waren, wurde es still am Tisch und damit deutlich, dass wir mit den Karten wunderbar die Möglichkeit überspielt hatten, miteinander zu reden.
Nicht nur dezent alkoholisiert erhob sich einer nach dem anderen, winkte ab gegenüber dem - wortlos durch das Hochheben der Schnapsflasche angedeutete - Angebot des Nachschenkens und wankte aus der Küche. Nur ich war zu langsam und eh ich mich versah, war Bruder und Schwager verschwunden und unsere Schnapsgläser waren gefüllt. Der Schwiegervater brachte sogar noch zwei Bier aus dem im Halbdunkel der Küche befindlichen Kühlschrank und einen Aschenbecher mit. „Du hast doch Zigaretten, wenn wir dann lüften, merkts keiner.“ Und nach dieser Vorbereitung erfolgte die Ouvertüre zu einem ungeahnten Auftritt:
„Du studierst also die Geschichte.“ begann er mit einer rhetorischen Frage und ich war über seine hellwachen Augen überrascht, die mich nahezu fixierten. „Ich war beim Russlandfeldzug dabei, bin schon als 17jähriger eingezogen worden bei der Wehrmacht. Die Heimat sollten wir verteidigen, weil halt Krieg war. Und dann habe ich Sachen gesehen...“ Und dann berichtete der alte Mann, den vermeintlich das Wetter die Haut gegerbt und die Jahre gezeichnet hatten von Kindern, die man erhängt in Dörfern zurückgelassen hatte, von Frauen, denen man erkennbar die Wäsche vom Leib gerissen und sie danach ermordet hatte, von Leichen der Bauern, inmitten der verlassenen Höfe. Und er berichtete von der Weite des Landes und dem leuchtenden Gelb und Grün der Felder. Seine Augen füllten sich mit Tränen während er die Szene schildert, wie er aus Todesangst nicht einzugreifen vermochte, als ein Soldat des Sonderkommandos einer schwangeren Frau das Messer in den Unterleib stieß. Und er erzählte und erzählte und erzählte, nur unterbrochen vom Klicken des Feuerzeugs und dem Nachfüllen der Gläser. Und die Bilder, die er in klaren Worten beschrieb, waren vor seinem geistigen Auge so präsent, als hätte er die Schrecken des Krieges erst gestern erlebt. Am nächsten Morgen und damit nur wenige Stunden später waren wir beide recht wortkarg beim Frühstück. Und auf die Frage, ob wir noch lange geredet hätten, schüttelten wir nur ausweichend den Kopf. Wir haben uns später nie wieder darüber unterhalten. Auch wenn ich es immer wieder einmal versuchte, das Gespräch und die Fäden der Erinnerung wieder aufzunehmen, - es blieb bei diesem einen kurzen Öffnen der Tür zur schmerzhaften, nicht erzählbaren Erinnerung. Ansonsten blieb diese Tür allen, außer in dieser einen durchzechten Nacht mir gegenüber, verschlossen.
Samstag, 28. Januar – Kurzgeschichte: Einmal weinen können
Nur weil ich meinen Hut vergessen hatte, kehrte ich nochmals in die Kirche zurück. Auf dem Weg zum Friedhof war es mir gar nicht aufgefallen, da man als Mann aus Pietätsgründen seine Kopfbedeckung üblicherweise abnimmt, während man dem Trauerzug zum Grab folgt. Aber als dann längst der Sarg in die Erde gesenkt worden war, die Blumen darauf gestreut und jeder am offenen Grab Abschied genommen hatte, da spürte ich die Kälte an den Ohren und vermisste meine Kopfbedeckung. Noch einmal hatte ich Sabine am Grab mein Beileid zum Tod ihres Vaters ausgesprochen und flüsternd hatte sie mich nochmals verpflichtet, auf jeden Fall zum Leichenschmaus mitzukommen und gerne alle mitzunehmen, die bei der Trauerfeier dabei waren, denn ihr Vater hätte es auf jeden Fall so gewollt.
In der Kirche war es ruhig, der Mesner räumte die liturgischen Geräte vom Altar und brachte das aufgestellte schwarz-weiß Foto in die Sakristei. Eine einzige Person saß noch in den Kirchenbänken und zwar genau in jener Reihe, in der ich auf der anderen Seite gesessen hatte und auch mein Hut noch lag. Eine Frau fortgeschrittenen Alters im schwarzen Mantel und darunter im dunklen Kostüm, verharrte dort noch immer in in sich zusammengesunken. Im fahlen Gegenlicht des Kirchenraums zeichnete sich ihre Silhouette wie eine große 6 ab. Während des Gottesdienstes hatte ich sie bereits wahrgenommen, denn sie weinte fast unablässig und wischte sich immer wieder Tränen aus ihrem Gesicht. Nun näherte ich mich langsam, den Hut wie ein Bittsteller in beiden Händen und fragte nach einem entschuldigenden Räuspern: „Bitte entschuldigen Sie vielmals, falls Sie es nicht mitbekommen haben, wir sind alle noch eingeladen mitzukommen. Ich soll ihnen sagen, wir sind in der alten Post. Ich kann sie auch mitnehmen, falls Sie möchten.“ Langsam hob sie ihren Kopf und sah mich aus leicht geröteten Augen an, denen man die vergossenen Tränen der vergangenen Stunde ansehen konnte. Die Trauer lag deutlich auf ihrem Gesicht, das gleichmäßig und schön war. Trotz der niedergschlagenen Haltung und Ihrer warmen, aber belegten Stimme war eine große Freundlichkeit spürbar, mit denen sie wohl üblicherweise Menschen begegnete und sich nun mir zuwandte. „Da müssen sie sich täuschen.“ sagte sie leise, „Denn ich kenne den Mann gar nicht und gehöre nicht zur Trauergemeinde. Aber Danke für die freundliche Einladung!“ Wir sahen uns beide an. Und ich musste meine Frage nicht aussprechen, die mir nicht nur auf der Zunge lag, sondern ins Gesicht geschrieben war. „Wissen Sie, ich bin zur Beerdigung gegangen, um einfach weinen zu können.“ Wieder war eine Pause zwischen uns beiden, bis sie fortfuhr: „Als mein Mann starb, durfte ich nicht weinen, ich musste stark sein. Ich konnte es auch nicht, vor den Kindern zum Beispiel schon gar nicht und ich durfte es nicht bei Freunden. Es war gut, hier einmal weinen zu können.“
Wir sahen uns noch einige Zeit an, wohl beide mit einem verständnisvollen und einem warmherzigen Blick, der fast zu einem Lächeln wurde. Wir nahmen uns an den Händen, wie man sich die eine Hand reicht und die andere nochmals darüber legt zur Betonung der Verbundenheit. Als wir uns so die Hände drückten, war ich überrascht, eine unerwartete Wärme zu spüren, die meinen kalten Händen guttat.
Dann nahm ich wieder meinen Hut, den ich neben ihr auf die Bank gelegt hatte, nickte ihr zu und verließ die Kirche.
Häutungen und Metamorphosen
Und plötzlich spüre ich so etwas wie Neid.
Pikanterweise beim Blick auf Reptilien im Zoo,
die ich sonst wenig und mit Unbehagen betrachte.
Aber sie können sich häuten, die alte Haut also verlassen,
wenn sie ihnen zu eng geworden ist,
oder wenn eine Metamorphose ansteht.
Wie gerne würde auch ich die äußere Haut abstreifen,
damit der Wandel im Inneren, das veränderte Ich,
auch beim Betrachter erkennbar würde.
Enttäuschungen
Noch ist es nicht soweit
Und hoffentlich wird es nie eintreten
Aber dennoch:
Wenn der Schmerz über das Unmögliche
die Freude über das Machbare übersteigt,
dann wird der Verstand das Herz an die Hand nehmen müssen,
um es wegzuführen auf der Suche nach dem Elysium.
Tod und Leben
In den vergangenen Monaten habe ich viel über den Tod nachgedacht, das Leid, den Abschied. Und wir trafen uns oft genug auf Beerdigungen und blickten einander in fragende Gesichter. Es ist gefährlich, dabei nicht das Vertrauen in das Leben zu verlieren. Mit der Vokabel „Gott“ wird es damit auch immer schwerer. Und ich erinnere mich an meinen Vater, der lange die dritte Aussage im „Vater unser“ nicht mehr aussprechen konnte nach dem Tod seines Sohnes. Und ich erinnere mich an José in Santa Rosario, der immer wieder, auch zusammenhanglos und ungefragt, mir erklärte, dass er an el Dios de la vida glaube, an einen Gott des Lebens, der das Leben möchte für uns, der selbst voller Leben, das Leben an sich ist.
Es wird Zeit, dass wir uns abwenden und den Blick auf Neues richten, nach den Fragen um Vergänglichkeit und Vergehen auf das Leben.
Und nun allen ein gesundes, gesegnetes neues Jahr !!
Gedankentagebuch 2022
oder Tagebuchgedanken als Ideen, Reflexionen, Gedichte, Kurzgeschichten, Zitate ...
Freitag, 30. Dezember – Menschen des Jahres
Am Ende eines Jahres erinnert man sich all der Geschichten und damit Begegnungen mit außergewöhnlichen Menschen. Gerade stolpere ich bei der Lektüre (Zeit Wissen Magazin 1/2023 unter dem Titel: Das bin ich auch) über ein Zitat von Julia Holbe:
„Ich bin die Summe der Menschen, die mir in meinem Leben begegnet sind, die ich geliebt habe oder liebe und von denen ich, vielleicht schon immer, aber jetzt umso mehr weiß, dass ich sie nicht verlieren will, und jeden Tag die Sicherheit zu gewinnen versuche, dass ich sie nie verlieren werde, eine emotionale Sisyphusarbeit.“
Eine schöne Übung der Dankbarkeit, noch einmal an (meine) Menschen des Jahres zu denken.
Donnerstag, 29. Dezember – Vivienne Westwood
Heute ist eine ganz eigensinnige Dame der Modewelt gestorben: Vivienne Westwood. Ein Zitat aus einem ihrer letzten Interviews (Magazin Süddeutsche Zeitung) ist wunderbar: „Dieses Getue um Schönheit wird immer unerträglicher. Die Menschen sollen sich mehr anstrengen, weniger dumm zu sein, denn das würde sie am besten kleiden. Das empfehlenswerteste Accessoire ist ein Buch.“
Montag, 26. Dezember – Von der Sprachlosigkeit
Wenn etwas zum Leiden führt, dann die Sprachlosigkeit. Und damit ist nicht das Verstummen gemeint, das es im staunenden Betrachten der Freude und des Hochgefühls bis zur Ekstase ebenso gibt wie in der fassungslosen Starre aufgrund des Schmerzes und der Angst. Auch nach dem Verstummen suchen wir nach Sprache. Deshalb hat mich die Liedzeile in der Schubertmesse immer so angesprochen: „Wohin soll ich mich wenden, wenn Gram und Schmerz mich drücken, wem künde ich mein Entzücken, wenn freudig pocht mein Herz?“ Wir brauchen das Gegenüber, damit Freude überhaupt erst gelebt und erfahren werden kann und damit das Leid fassbar und ertragbar oder wie es sprichwörtlich heißt durch das Teilen wenigstens halbiert und vermindert wird. Wenn ich mir die Hölle vorstellen soll, dann ist es ein Ort der Sprachlosigkeit. Menschen gehen dort umher, ohne die Dinge aussprechen zu können, die es für sie auszusprechen und zu teilen gilt und verweigern daher dem Anderen die Aufmerksamkeit, das Interesse und damit die gegenseitige Achtung. Noch schlimmer in diesem Szenarium und damit dieser Hölle, diesem Inferno schlechthin wird es, wenn sich diese spezifische Sprachlosigkeit mit Geschwätz und Geplapper paart. So paradox es klingen mag, die Sprachlosigkeit sucht manchmal ein intensives Reden, um diese unangenehme und lebensbedrohende Form des Schweigens in der Sprachlosigkeit zu vertuschen oder zu übertünchen.
Samstag, 24. Dezember – Kurzgeschichte Weihnachtliche Lichtspielerei
Bis heute weiß ich nicht, ob es der Mesner oder der Priester war, der am Vormittag des Heiligen Abends noch im Altarraum stand und die Beleuchtung prüfte. Ich war mit dem Kinderwagen unterwegs und vielleicht entsprang es einer Gewohnheit, vielleicht aber auch einem inneren Wunsch, mich auf Weihnachten einzustimmen, der mich in die Kirche führte.
Die Gegenstände und Utensilien waren alle vorhanden: eine aufgebaute Krippe, in der fast lebensgroß ein geschnitztes Kind lag, der allein mit Strohsternen geschmückte und mächtig ausladende Baum und mehrere um Altar und Rednerpult geschlungene Tücher, in denen auch die Strahler versteckt waren.
Draußen war ein grauer Tag und das Licht im Innern daher gedämpft. Man konnte bereits erahnen, wie abends in der dunklen Kirche das Lichterspiel wirken würde. Die Strahler tauchten den Kirchenraum in ein zartes Gelb-Orange, das man bis zu einem tiefen Rot-Violett verändern konnte, als wäre es der Widerschein eines offenen Feuers. Und dann die majestätisch wirkende Tanne, die über und über bedeckt war mit kleinen Lichtern, die in einem angenehmen goldenen Strahlen den Baum zum Leuchten brachte. „Es muss im Dunklen herrlich sein“ sagte ich zu dem großen Mann, der ganz in schwarz gekleidet einen schönen Kontrast zum Baum ergab, an dem er noch irgendwelche Dinge befestigte. „Ja,“ meinte er zustimmend und antwortete ohne sich mir zuzuwenden, „das ist ein ganz faszinierendes Spiel mit dem Licht, das wir heute Abend aufführen. Wie sagt Jesaja: >Das Volk, das in der Finsternis lebt, sieht ein großes Licht. Hell strahlt es auf über denen, die ohne Hoffnung sind.< Wir alle kennen doch dieses Gefühl, wenn uns in der Dunkelheit ein noch so kleiner Lichtstrahl den Weg weist und Sicherheit gibt, wenn nach langer Nacht das Morgengrauen einen neuen Tag verheißt und wir alle wissen, dass der Hass genau so wenig den Hass besiegen kann, wie das Dunkle die Finsternis, nur das Licht kann es und die Liebe. Dann ist Weihnachten.“ Der Mann drehte sich zu mir um und ich sah in ein müdes Gesicht, in dem zu meiner Überraschung kein Leuchten und wenig Leben war. „Letztlich“, fuhr er fort, „letztlich sind wir Zauberer und manchmal sind es Taschenspielertricks, die wir mit dem Licht vollbringen. Ein Hokuspokus. So wie der Blick gelenkt wird, damit wir beim Zaubern nicht den Trick erkennen, erzählen wir die alten Geschichten und entzünden im rechten Moment die Kerzen oder drücken den Schalter. Es vermengen sich gefühlte und erhoffte Wirklichkeit mit der tristen Realität.“ Etwas ratlos ob dieser Entzauberung sagte ich fast ein wenig trotzig: „Und trotzdem ist es wunderschön!“ - „Oh ja, natürlich ist es das. Nur müssen wir es eben selbst glauben und glauben bedeutet dabei an dieser Haltung arbeiten. Wie heißt es im Psalm 112: >In der Finsternis erstrahlt den Aufrichtigen ein Licht; gnädig, barmherzig und gerecht.< und im Evangelium wird nochmals betont: >Das Licht strahlt in der Dunkelheit, und die Dunkelheit konnte es nicht auslöschen.< Aber wie gesagt, wir müssen daran glauben, wir müssen uns davon anregen und bewegen lassen. Wir müssen darauf vertrauen und hoffen. Dann haben wir die Kraft zu handeln, etwas zu verändern. Nur dann ist Weihnachten nicht nur ein frommes Lichterspiel für Kinder und kindliche Erwachsene.“ Noch kurz sah der bereits etwa ältere Herr in Schwarz mich an, dann löschte er alle Lichter an diesem Vormittag und ließ mich mit meinem Kinderwagen in der fahl erleuchteten Kirche stehen und verschwand in der Sakristei. Bis heute weiß ich nicht, ob es der Mesner war oder der Priester.
Sonntag, 18. Dezember – Berge und Beschränkung
Hin und wieder muß man auf einen Berg steigen, um ein wenig weiter sehen zu können.
Am Fuße der Berge und damit angeschmiegt an sie und ausgestreckt ins Tal hinein liegen die Dörfer und kleinen Städte. Um diese Jahreszeit sieht man den Rauch aus den Schornsteinen aufsteigen, was Behaglichkeit vermittelt.
Wer weiter sehen will, muss diese Behaglichkeit verlassen, im Winter den wärmenden Ofen, im Sommer die schützenden Wände.
Und wir dürfen vom Berge aus nicht verächtlich auf jene blicken, die das Tal nie verlassen und sich begnügen mit dem beschränkten Blick.
Freitag, 16. Dezember – Reden mit begrenztem Vokabular
Diese Gespräche sind mir zuwider: wenn sich ein Satz an den anderen reiht, aber nicht weil Spannung zwischen ihnen entsteht oder der Reiz des Widerspruchs eins auf das andere folgen lässt, sondern weil absehbar ist, was nun kommen wird. Man kann mit höchster Wahrscheinlichkeit vorhersagen, was wohl folgt. Vielleicht vergleichbar mit einer Masche nach der anderen, die man aufnimmt und man von Beginn an weiß, dass es nichts anderes werden kann als ein Topflappen.
Da erinnere ich mich an meine liebe Tante Irma, die in ihrem Leben unzählige Topflappen gehäkelt hat. Vielleicht ist das ja auch eine zutiefst deutsche Eigenart - oder wer nutzt auf dieser Welt noch derartige Topflappen? Mit großer Beharrlichkeit hat meine Tante diese viereckigen Dinge zwischen ihren fleißigen Fingern entstehen lassen, die zum Zeitvertreib angefertigt wurden. Und daran erinnern mich viele Gespräche... ein Zeitvertreib ohne jegliches Ziel über den gegenwärtigen Moment der Aktion hinaus.
„Wir haben uns ganz nett unterhalten“ heißt es dann, allerdings erinnert man sich nach kürzester Zeit nicht mehr an den Inhalt. Es bleibt bei einem überschaubaren Vokabular, ohne jegliche Neuschöpfung der Gedanken, Worte und damit dem Suchen, dem gemeinsamen Ringen oder auch manchmal Tasten nach Erkenntnis, dem kurzen Moment des neuen Fragens. Wir bleiben gefangen in der Beschreibung der Banalitäten und das auch zum Teil auf höchstem Niveau der Sprache. Vielleicht - das habe ich mich schon oft gefragt, liegt ja auch in diesem Austausch von Banalitäten ein größerer Sinn. Das mag wirklich so sein: allein das Selbstvergewissern, erst recht das gegenseitige Versichern des Wohlwollens, hat seine eigene Wertigkeit. Aber in manchen Momenten ist es mir zuwider.
Donnerstag, 15. Dezember – der unverfügbare Eros
Liebe... bleibt das Unverfügbare. Natürlich nicht die Nächstenliebe, das Erbarmen und die liebende Zuwendung zum anderen. Aber die Leidenschaft, das Begehren und Aufgehenwollen im und mit einem Gegenüber, wodurch Grenzen überschritten werden und Linien zwischen einem Du und einem Ich verschwimmen und Aufgehen wollen in einem größeren Zusammenhang, den wir nicht benennen können. Vielleicht haben so viele Religionen und Ideologien Angst vor dieser Kraft des Eros, weil er Grenzen sprengt und unverfügbar bleibt.
Mittwoch, 14. Dezember – Ausstattung des Lebens
Eine tröstliche Botschaft: der Kolibri sollte sich nicht mit dem Känguru messen, die Ameise nicht mit dem Elefanten, aber auch nicht der Hering an der Küste oder bei Spitzbergen mit dem Hering in den Weiten des Atlantik. Alle Heringe sind von Außen betrachtet recht gleich geschaffen. Aber der eine hält die Kälte aus und die schwankende Wasserqualität, der andere ist dafür nicht geschaffen und bei Entbehrungen geht er schneller zugrunde.
Aber der eine ist wie der andere wertvoll, unabhängig seiner Konstitution und körperlichen wie psychischen Ausstattung. Er muss sich dazu nicht messen.
Montag, 12. Dezember – Fragilität
In manchen Momenten wird das Leben fragil, zerbrechlich. Es hat sich angedeutet, Verletzbarkeit steht als vage Möglichkeit im Raum und doch wird es erst ganz klar, wenn es eigentlich zu spät ist. „Attention fragile“ – steht auf Packungen, die von Außen ganz kompakt und stabil aussehen und doch einen Inhalt haben, den es besonders zu schützen gilt. Wie gefährdet der Inhalt ist, zeigt sich erst, wenn wir das Klirren der Scherben hören oder wir das Paket öffnen. Im Lateinischen bedeutet fragil sowohl zerbrechlich als auch gebrechlich, wenn also eine Sache an sich gefährdet ist oder auf Dauer geschwächt wurde, betrifft Gegenstände wie Lebewesen.
Und auf den Packungen steht zumeist dabei: „Handle with care“, aber nicht immer.
Sonntag, 11. Dezember – Morgenstunde
Und wir hoffen, allmählich aufzuwachen
Durch das wärmende Licht,
das langsam die Nacht verdrängt.
Wenn Nacht und Tag sich freundlich begrüßen
Und leise von den neuen Möglichkeiten flüstern.
Und dann werden wir herausgerissen und geweckt
durch das grelle Licht der Verpflichtungen,
das keine Zeit des Übergangs kennt.
Wenn der Tag die Nacht verkürzt und sie nur als
Diener kennt und als Schuldige behandelt.
Samstag, 10. Dezember – Formeln statt Gebete
Manchmal sprechen wir Beschwörungsformeln
und überschreiten die Grenze vom Gebet zum Aberglauben.
Himmel und Hölle scheinen klar zu trennen sein
und damit auch die sie bewohnenden Geister.
Mit einem Fluch oder Segen,
möchten wir so gerne den Lauf der Dinge wenden.
Donnerstag, 8. Dezember – Ikonen
Ikonen sind Fenster zum Transzendenten in einer säkularen Welt. Und daher bin ich irritiert über diese Ausstellung. Unter dem Leitwort „Ikonen gegen den Krieg“ werden Ikonen gezeigt, die in den letzten Monaten entstanden sind. Auf ausrangierten Munitionskisten entstanden Gemälde, welche die Bildsprache der Ikonenmalerei aufnehmen und durchaus einen anderen Blick auf Wirklichkeiten richten. Aber kann man das Heilige darstellen auf Kisten, in denen zuvor die Munition zum Töten transportiert wurde?
Dienstag, 6. Dezember – Jahre und Bücherwelten
Noch einige Jahre hätte ich gerne, die ich einfach mit meinen Büchern verbringe. Jeden Tag lesend und beim Spazierengehen darüber nachdenkend. Es würde ein kleines Geld reichen, um täglich ein wenig zu essen, hin und wieder ein gutes Glas Wein zu genießen und viel nachzudenken.
Und natürlich mögen mir die Menschen dazu geschenkt werden, um über die Bücher zu sprechen.
Montag, 5. Dezember – Geburtstagsfeier
Wie viele Seiten füllt ein Leben? Es gibt so viele Geschichten zu erzählen und sie sind alle nur kleine Mosaiksteine. Es reichen keine Bücher, um diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen, es bleibt immer etwas Unverfügbares, Unbeschreibbares. Es bleibt immer eine Leerstelle, wie im Musikstück die Fermate.
Sonntag, 4. Dezember – Fluch und Segen
Fluch über das Gesetz, schreibt Schiller,
das zum Schneckengang verurteilt,
was zum Adlerflug geworden wäre.
Was hätte aus mir werden können,
ohne die Prägungen meiner selbst,
die mich wie Gesetze in Bahnen zwingen.
Vielleicht kann aus dem Sprengen dieser Ketten,
dem Verlassen der vorgezeichneten Bahnen,
doch noch Segen werden für meine Welt.
Samstag, 3. Dezember – Kurzgeschichte: Frau Bronnenmeiers leerer Blick
Lange hatten wir uns nicht mehr gesehen. Und als ich sie in der Menge der Besucher unserer Weihnachtsfeier entdeckte, eilte ich quer durch den Saal, um endlich wieder einmal mit ihnen reden zu können.
Herr Bronnenmeier sah mich an und bereits in diesem ersten Augenblick der Begegnung dachte ich mir: Hoffentlich ist mir meine Erschütterung nicht anzumerken. Er war nicht nur gealtert seit unserem letzten Treffen - das war ich ja sicher auch und keine weitere Überraschung. Aber ich sah in ein müdes Gesicht, das von Erschöpfung und Resignation gekennzeichnet war. Als er mich erkannte, hellten sich die dunklen Züge auf und mit einem Lächeln verschwand der Schatten, der irgendwie auf seinen Gesichtszügen lag. Unsere Freude, uns wiederzusehen, musste auch für Außenstehende erkennbar sein und mir schien, dass er sich mir nicht nur zuwandte, sondern sich regelrecht aufrichtete. „Dass ich das noch erleben darf“, sagte ich lachend, „dass wir uns endlich wieder sehen.“ Und er fragte nur rhetorisch: „Zwei Jahre dürften doch nicht mehr reichen, seit wir uns bei der letzten Feier trafen, oder? Wie doch die Zeit vergeht.“ Und er fasste mich zur Begrüßung am Oberarm, was für Herrn Bronnenmeier schon sehr viel Nähe und Herzlichkeit bedeutete. Wir erzählten uns Geschichten, wie das ältere Herren so tun, wenn sie sich der gemeinsamen Vergangenheit und damit freundschaftlicher Verbundenheit versichern. Und immer wieder versuchte ich, seine Frau ins Gespräch einzubeziehen. Aber erst allmählich spürte ich, dass Frau Bronnenmeier mich zwar anlächelte, aber eigentlich durch mich hindurchschaute und den Blick auf irgendetwas in der Ferne gerichtet hatte. Auch als ich sie direkt ansprach, blieb ihr Lächeln mir gegenüber bestehen, aber der Blick war seltsam leer und obwohl sie mir schräg gegenüber saß, trafen sich unsere Blicke nicht. Allmählich wuchs meine Irritation und neben der Einbeziehung durch Floskeln wie „Sie erinnern sich doch sicher auch“ oder „damals waren wir ja auch gemeinsam unterwegs“ stellte ich schließlich direkte Fragen. Aber auch diese blieben unbeantwortet und sie lächelte weiter wie durch mich hindurch. Hilfesuchend wandte ich mich Herrn Bronnenmeier zu, der mir fast reglos zunickte und dabei die Lippen aufeinanderpresste, bis er den Kopf leicht senkte, als wolle er sagen, lassen Sie bitte die Fragen, sie wird nicht antworten. Als ich darauf einfach weiter erzählte, um die Situation zu retten, wurde mir kalt und ich fühlte, wie man so sagt, einen Schauer über den Rücken laufen. Frau Bronnenmeier hatte uns verlassen, obwohl sie noch da war. Und auch als ich mich verabschiedete, lächelte sie und erblickte etwas in der Ferne, wozu wir ihr nicht folgen konnten. Mein alter Kollege bedankte sich innig für unser Gespräch und wir versuchten, wieder zum Alltag zurückzukehren, zu Ente mit Blaukraut und Kloß und damit zu den Weihnachtsfeiern von früher.
Freitag, 18. November – Lesung
Wenigstens ein kurzer Vermerk in dieses Gedankentagebuch: Heute meine erste richtige Buchlesung zur Neuerscheinung: „Laßt uns zu den Menschen gehen“ Es ist ein ganz eigenes Format, vor unbekannten Menschen aus den eigenen Büchern zu lesen. Denn Literatur benötigt doch die eigene Aneignung durch den Leser – das innere Gespräch zwischen Buch und Lesenden. Es hat etwas Intimes.
Dienstag, 15. November – Einmal Stolz – das Lob der Welt
Er saß eigenartig zusammengekauert am Tresen, als ich die Kneipe betrat. Man könnte wunderbar die rechte Hälfte des Buchstaben O um ihn nachzeichnen, dachte ich mir, wie er so gekrümmt am Barhocker lehnte. Als ich mich zu ihm setzte und er mich mit müden Gesicht und wässrigen Augen ansah, war mir klar, dass er schon lange so dasaß. Nach einer knappen Begrüßung begann er mit seiner Rede, die er wohl vorbereitet hatte, um sie irgendwann einem Gegenüber zu erzählen.
„Einmal im Leben, wäre es doch schön, wenn jemand auf mich stolz gewesen wäre.“ sprach er mit leiser, aber bestimmter Stimme. Und dabei schritt er, während unsere beiden Gläser immer leerer wurden, ein ganzes Leben ab. „Soviel ich auch darüber nachdenke und überlege, es fällt mir kein Moment ein, in dem jemand auf mich als Kind oder Jugendlicher stolz gewesen wäre. Natürlich habe ich keine Heldentaten verbracht, aber immerhin gab es doch Dinge, die mir gelungen sind. Die üblichen Wegemarken beispielsweise, wie der Schulabschluss, der Führerschein, das Studium und später erste erfolgreiche Momente im Beruf, die man üblicherweise als erkennbare Sprossen der Karriereleiter sehen hätte können. Aber niemand war da, um stolz sein zu können. Niemand war da, der diese Momente als solche sah. Und erst recht fehlte der unbekümmerte, aber nicht grundlose Stolz wie ihn Eltern und Freunde zuweilen kennen, vor allem auch Liebende, da der Andere so einzigartig Lachen oder zum Lachen bringen kann, vielleicht so außergewöhnlich Singen, Tanzen oder auch nur Bewegen oder Zuhören kann. Manchmal kann man doch auch stolz sein über Dinge, die in keiner Weise etwas Außergewöhnliches, Hervorragendes sind und dennoch sind wir stolz darauf. Vielleicht“ ... so fuhr er fort ... „kann man auch nicht richtig stolz auf sich selbst sein, wenn es nicht andere wenigstens zuvor oder auch gemeinsam mit einem waren oder sind. Allein auf sich selbst stolz zu sein, das wirkt schal wie abgestandenes Bier“ ... und mit einer kleinen Handbewegung auf sein fast leeres Glas bestellte er ein weiteres ... „und natürlich auch selbstgefällig. Denn das Wissen fehlt, dass man zurecht stolz sein darf, da es andere auch sind oder, wenn sie es denn wüssten, auch wären.“ Wieder nahm er einen Schluck und wie das Bier im Glas weniger wurde, so würde die Traurigkeit in seiner Stimme größer.
„Einmal im Leben, wäre es doch schön, wenn jemand auf mich stolz wäre.“ sagte er nunmehr ganz leise und fast tonlos. Gerne hätte ich geantwortet und etwas erwidert, so beispielsweise einen Hinweis, dass dies noch kommen könne oder ich irgendwie stolz auf ihn sei. Allein schon darauf, es auszusprechen und so schonungslos auf sein Leben zu schauen. Und doch wollte mir nichts über die Lippen kommen und ich prostete ihm nur zu, zustimmend nickend. Nun saß er erschöpft nach seiner Rede zusammengesunken da, und man hätte einen Halbkreis um ihn ziehen können, wie ein halbes O oder ein Satzzeichen nach einem Kommentar, der in Klammern stand.
Montag, 14. November – Sprache finden
Vielleicht würde ich jetzt eine Sprache finden, um meine Eltern zu verstehen. Damals waren wir zu weit entfernt. Mit 20 Jahren hörte ich seine Worte, aber konnte nicht entschlüsseln, was er mir mit knapp 60 Jahren sagen wollte. Seine Erfahrungen waren so viel reicher und intensiver, vor allem durch das Leid und die Sorge, die ich damals nicht kannte. Heute bin ich selbst über die Mitte des Lebens gegangen und verstehe den Klang des Liedes, das er mir sang.
Sonntag, 13. November – Volkstrauertag
Nach der Feierstunde zum Volkstrauertag – als längst das Lied vom Kameraden und der Marsch „Reichswehr“ verklungen ist, legen wir unsere Instrumente im Schießstand des Schützenhauses ab. An die Tür hatte jemand einen Zettel geheftet: „Waffenschrank zusperren – nicht vergessen!“ Welch irreale Momente. Von hier an die Grenze oder zum Beispiel nach Lemberg (dem heutigen L'viv) sind es nicht mal 1000 km Luftlinie.
Samstag, 12. November – Reden und Schweigen
Heute will ich nur schweigen. Niemand soll mich in Versuchung führen, wie immer zu plappern, zu scherzen, zu palavern. Wie oft bin ich diesem Muster gefolgt: Wenn das Schweigen nicht auszuhalten war, das eigene nicht und erst recht nicht das der anderen, dann habe ich geredet und erzählt, auch ermuntert und nachgefragt. Es war kein sinnloses Gerede, kein leeres Geschwätz, sondern im Gespräch sollte immer auch der Brückenschlag von der Gedankenwelt des einen zu den Erfahrungen der Anderen ermöglicht werden.
Und doch war es oft die Unfähigkeit, das Schweigen auszuhalten. Denn im Schweigen steckte der Keim für die schnell wachsende Pflanze, die zwar als Blüte auch das angenehme Nachsinnen über Schönes und Wunderbares enthält und die dankbare Erinnerung an erfüllte Tage und das liebkosende Licht froher Zeiten, aber eben auch das Gestrüpp und das raumgreifende Geflecht der Trauer und Einsamkeit, das den Lebenssinn verkümmern lässt. Und tief in mir schlummert die Angst, das traurige Schweigen - das eigene und erst recht nicht das der anderen - aushalten zu können. Und gleich erinnere ich mich bei diesen Gedanken an Trauerfeiern und damit die zeremonielle Form des Abschiednehmens. Hier halten wir zusammen das Schweigen aus, aber wie ein übervoller Stausee bricht danach der Damm und wir plappern und reden und wenn nicht auf dem Friedhof, so doch spätestens bei der anschließenden Kaffeetafel oder beim Leichenschmaus wird erzählt und gescherzt, auch geplappert und gelacht. Es braucht dieses Ventil des Lebens, um all die Kräfte von Druck und Belastung auszuhalten.
Sonntag, 6. November – keine Zeit mehr
Es bleibt keine Zeit mehr! Irgendwann stand dieser Satz vor seinem geistigen Auge und eine innere Stimme schien ihn zu flüstern und dann immer lauter auszusprechen. Und dieser Satz erfüllte mehr und mehr den gesamten Raum, der ihn umgab und bündelte sein gesamtes Lebensgefühl in dieser knappen Zusammenfassung: es bleibt keine Zeit mehr!
Als er dem Arzt zugehört hatte, nahm er ohne emotionale Erregung ganz analytisch die Ausführungen auf, als würde es sich nicht um ihn selbst, sondern um einen anderen Patienten handeln. Aber jetzt, da er in dem kleinen Wartebereich stand, folgten die Erschütterungen der Seele dem rationalen Ordnen der Gedanken und in einem einzigen Satz gefror die eben akzeptierte Erkenntnis und war dadurch greifbar: es bleibt keine Zeit mehr!
Aber mit dieser Erkenntnis war nicht zu leben, mit diesem Leitsatz war kein einziger Tag zu durchschreiten. Man konnte nicht permanent mit dem Wissen der Endlichkeit umgehen. Er dachte an seine Freundin die Palliativärztin, die gerne das Bild der liegenden Acht nutzte, das für Sie schöner war als das vom langsam zu Ende kommenden Pendel. Wenn die Zeit endlich wird, bewegen wir uns in die eine Richtung, in der wir nur an das unendliche und unbedingte Leben glauben. Und es einfach nicht wahr sein kann, was nicht sein darf. Und doch folgt das Denken und Fühlen wie einem großen Bogen und nähert sich dem anderen Extrem, der großen Angst vor dem Ende, die alle Kraft nimmt. Und mit der Zeit werden die großen Bögen der acht kleiner und kleiner und nähern sich der Mitte.
Er dachte an das EKG und die Bögen und Zacken, die dort geschrieben werden. Nimm dem Leben die Ausschläge, die Amplituden ins Positive und eben auch ins Negative und es schrumpft auf die Nullinie, den Tod.
Mechanisch und selbstverständlich holte er sich einen Automatenkaffee, lächelte über sich selbst, da ihn kurz der absurde Gedanke überkam, dass zu viel Koffein wohl nicht gesund sei und dachte an all die Weisheiten aus dem Poesiealbum, die jetzt alle nicht weiterhalfen: das Apfelbäumchen, das es auch noch im Angesicht des Todes zu pflanzen gilt zum Beispiel.
Der Kaffee schmeckte bitter und doch ein wenig wässrig. Nachdem er ihn lange in der Hand gehalten hatte, einfach auf den Boden starrend, ohne die Gedanken noch ordnen zu können, trank er ihn in einem Zug aus und verließ das Wartezimmer und ging langsam den vertrauten weißen Gang entlang.
Mittwoch, 2. November – Lebensleistung: nihil nisi bene
Nichts als nur Gutes soll man sprechen ... zumindest heißt es das im lateinischen Sprichwort über die Toten. Aber es gilt wohl auch für die Lebensleistung einer Person, die ihr Amt abgibt.
Nihil nisi bene also... und ich kann nur hoffen, dass andere einmal auch so nachsichtig sind, wie ich selbst mich gegenüber Anderen darin übe.
Dienstag, 1. November – Allerheiligen
Du kannst dir einfach das Wort, das dir gut tut, nicht selbst sagen. Und deshalb warten wir manchmal so lange und so geduldig. Und manchmal sogar am falschen Ort für lange Zeit.
Die Orgel in unserer kleinen Pfarrkirche klang immer gleich. Es waren schwere und langsame Choräle, die auf ihr gespielt wurden und er fragte sich, ob man auf diesem Instrument überhaupt Fröhliches anstimmen konnte. Sogar ein Halleluja klang gedämpft, fast schwermütig. Vielleicht hatte die Orgel ja auch nur dieses eine Register oder es lag vielleicht doch am Organisten. Oder hörte nur er durch all diese Töne, die den neobarocken Bau erfüllten die Schwere und Traurigkeit, die nichts Helles und Frohes zuließen?
Und auf dem Heimweg schreibt Andreas eine kurze Nachricht, die den Tag wunderbar zusammenfasst: „Die selbst gewählte (und ich füge hinzu:) selbstgefällige Diktatur der Banalitäten“. Wir begrenzen uns immer wieder selbst. Wir bleiben weit hinter dem zurück, was uns das Menschliche an Potential geben würde.
Sonntag, 30. Oktober – Erinnerungen
Warum fällt eine Träne auf das Blatt Papier,
das unser Glück festhalten soll?
Warum wische ich mir feuchtgewordene Augen trocken,
während ich die Bilder froher Tage betrachte?
Warum will Glück Unendlichkeit
und der Sommer des Herzens keinen Herbst?
Und wieso können Freude und Lust,
nicht die vollen Farben behalten in der Erinnerung?
Vielleicht braucht Genuß und Lust das Nachempfinden,
auch wenn das Dunkle des Abschieds
die Erinnerung an die helle Sonne vermeintlich trübt
Und doch eine geistige Gegenwart erleuchtet.
Samstag, 29. Oktober – das blaue Meer
Oft ist das Meer schwarz, undurchsichtig und wir können nur erkennen, dass es uns trägt, aber nicht, auf was es gründet.
Heute ist das Meer blau und weckt keinen Hauch von beunruhigenden oder gar beängstigenden Gefühlen.
Ob der Grund schwankend ist oder trägt, ob wir die Gnade des Urvertrauens geschenkt bekommen haben oder nicht, hat viel mit Nähe zu tun, vielleicht sogar mit Zärtlichkeit.
Am Totenbett werden wir die Frage beantworten müssen, ob der Himmel und das Meer blau sind oder schwarz.
Montag, 10. Oktober – Nachtrag zur Musik des Lebens
Als kleiner Nachtrag zu meiner Geschichte zur Begegnung am Maschsee in Hannover finde ich das folgende Zitat: „Es gibt Leerstellen in einem Leben, manchmal aber auch das, was man einen Refrain nennt. Während mehr oder weniger langen Zeitspannen hörst du ihn nicht, und man könnte schon glauben, du hättest diesen Refrain vergessen. Und dann, eines Tages, ist er plötzlich wieder da, wenn du allein bist und nichts ringsum dich ablenken kann. Er ist wieder da, gleich den Worten eines Kinderlieds, das immer noch seinen Zauber ausübt.“ (Patrick Modiano, Unsichtbare Tinte, München 2021, Seite 47).
Sonntag, 9. Oktober – Kurzgeschichte: Schostakowitschs Walzer
Wenn es ein Musikstück gibt, das gerade mal in dreieinhalb Minuten die fröhliche Traurigkeit des Lebens durchschreitet, dann ist es der Walzer Nummer 2 von Dimitri Schostakowitsch. Damit ist es für mich auch immer die Hymne der Melancholie, die ich als notwendiges Korrektiv zu anderen Gefühlslagen schätze und die nicht zu verwechseln ist mit Traurigkeit oder gar Depression.
Der Saxophonist hatte am Ende der Promenade am Maschsee seinen Verstärker aufgebaut und spielte eingängige Melodien zum Playback aus dem Lautsprecher. Ich erkannte das vertraute Stück schon nach den ersten vier Takten, die als Einleitung den klassischen ¾-Walzertakt vorgeben. Dann erhebt sich in C-Moll das Motiv im Tempo Allegretto poco moderato, also passend zu der mich sofort erfüllenden Stimmung „nicht schnell, etwas mäßig“. Gerne hätte ich getanzt, wie zwei andere Paare, die sich von der Musik ebenfalls inspirieren ließen, aber ich war allein unterwegs und wir sollten uns erst am späten Abend wieder treffen. Für mich ist dieses Motiv wunderbar, das üblicherweise von einem Soloinstrument eingespielt wird und dann Fülle bekommt, wenn weitere Blasinstrumente einstimmen. Die Streicher zupfen die Begleitung und geben dem Walzer diesen Schwung, der einem animiert zu tanzen und dem ganzen Stück trotz der dunklen Molltonart eine Leichtigkeit gibt. Nach einem ersten Durchgang übernehmen die Streicher das Motiv und die Bläser begleiten, während ich dabei an wunderbare Begegnungen denke, die sich wiederholen und hoffentlich immer wiederkehren werden als Motive der eigenen Lebensmelodie. Aber es folgt ein zweites Motiv, dieses Mal in der dazu passenden Paralleltonart Es-Dur. Es fügt sich bestens ein, als würden Erinnerungen von anderen überlagert und variiert. Nachdem es ebenfalls wiederholt erklang, folgt noch ein drittes musikalisches Thema, bei dem sich wieder Streicher und Bläser abwechseln. Spätestens da erinnere ich mich an die Menschen, die wie verschiedene Motive und Themen meine eigene Lebensmelodie mitgeschrieben haben. Natürlich denke ich auch an die Szenen, in denen dieser Walzer als Filmmusik erklang.
Am Ende nimmt das Stück, wie eine finale Erlösung und erhoffte Erfüllung noch einmal das Eingangsthema in c-Moll auf. Es erinnert mich, dass die Musik bleibt wie die Mosaiksteine der Erinnerungen an liebende Menschen, auch wenn die Töne verklingen werden. Die letzte Wiederholung des wunderbaren Motivs in c- Moll ertönt in einem lauten Tutti aller Instrumente mitsamt Schlagzeug und Paukenbegleitung und endet in einem furiosen Schlussakkord.
Hier vor der Kulisse des weiten Maschsee applaudieren die Paare, deren Spuren des ausgelassenen Tanzes man auf dem Sand noch sehen kann und der Saxophonist verneigt sich.
Auch ich stimme ein und gehe melancholisch weiter. Wissend um das Labyrinth des Lebens mit seinen Melodien und Begegnungen, das man bei aller Unübersichtlichkeit und Mühsal doch heiter durchschreiten kann.
Samstag, 8. Oktober – Trauerweiden
Der Baum des Herbstes ist für mich die Trauerweide. Es wäre schöner, wenn er Melancholiebaum heißen würde, es klänge froher.
Dienstag, 4. Oktober – Kurzgeschichte – Wutrede
Vielleicht hätte ich die Frage nicht stellen sollen. Vielleicht war es aber auch der richtige Moment, wie bei einem zum Überlaufen vollen Stausee ganz unbedarft die Schleusen zu öffnen, um all den Ärger, den Zorn, die Wut und Empörung in einer Kaskade freien Lauf zu lassen. Ich sah, wie ein Zucken in seinem Mundwinkel die gesamte Spannung verriet, die ich ausgelöst hatte, in dem ich mich nach seinem Befinden erkundigte.
„Unerträglich,“ so begann er seine Rede mit einem Beben in der Stimme, „unerträglich finde ich sie alle in ihrer bodenlosen Banalität und Geschwätzigkeit. Sie alle, die ich in meinem Umkreis wahrnehme, mit dem Wort >oberflächlich< zu bezeichnen, wäre noch eine unverdiente Auszeichnung, denn man könnte dann immerhin hoffen, dass es neben der rein banalen Existenz, also unter der erkennbaren Oberfläche Ihres Seins eine noch so seichte Tiefe geben könnte, die wenigstens einen kleinen Anschein von Geist enthielte. Und dabei sind sie alle gesegnet und ausgestattet mit allen Gaben des Lebens: sie können sich bewegen, wohin sie wollen, sie haben einen Geist, der darauf wartet geweckt und erfüllt zu werden, sie haben alle Sinne zur Erfassung der Welt. Ihnen ist alles bereitet, um zu denken und zu handeln, um sich aus der kleinen und auf das rein Materielle beschränkte Welt zu befreien und zu den Höhen zu erheben, die wir einmal Freiheit nannten, Solidarität oder Brüderlichkeit. Und was tun Sie? Es reicht ihnen allen, in dieser kümmerlichen Welt zu verharren wie Hühner, die den Blick nicht vom Boden erheben und ihre Existenz beschränken auf die Suche nach ein paar Körnern, anstatt sich in die Lüfte zu erheben und ihre Fähigkeit zu fliegen nutzen, um nach Größerem Ausschau zu halten.“ Kurz hielt Stefan inne, da sein linkes Bein zu zucken begonnen hatte und dadurch unkontrolliert an den metallenen Rollstuhl schlug. Er rückte es wie gewohnt mit der Hand zu Seite, um das Klappern zu beenden und fuhr unbeirrt fort: „Widerlich finde ich dieses Leben der anderen, die alle ihre Kräfte nicht nutzen und blutleer durch den Tag, die Wochen, die Jahre gehen. Sie schleichen im Tal umher auf der Suche nach ihrem kleinen Platz an der Sonne und erheben nicht einmal den Blick zu den sie umgebenden Bergen im gleißenden Licht, geschweige denn, dass sie sich aufmachen würden zu den Gipfeln. Sie verkriechen sich in behaglichen Höhlen und wollen nicht einmal davon hören, dass unweit von Ihnen Menschen um ihre Hilfe rufen, dass sie mit ihren Gaben und Möglichkeiten dringend gebraucht werden.“ Für einen Moment verstummte er, da wir im Straßencafé den Weg frei machen mussten und daher der Rollstuhl anders an den Tisch zu stellen war, wozu er meine Hilfe benötigte.
„Ich weiß,“ so nahm er etwas ruhiger seine Rede wieder auf, „dass es nicht gerecht ist, wenn ich andere für Ihre Leichtigkeit und Unbeschwertheit verachte. Denn in der Verachtung schwingt immer auch Neid mit oder zumindest eine Geringschätzung, die schnell die elitäre Maske ablegt und zur reinen Arroganz wird. Und doch bleibt der innere Schrei: Warum ich? Und warum nicht sie? Warum diese Beschränkungen und warum die Freiheit der anderen, die sie nicht nutzen und lieber in ihrem goldenen Käfig verharren, all die Möglichkeiten nicht sehend und sich dabei auch den lauten Rufen der Armen und Gedemütigten verschließen. Und manchmal ist es eben schwer, nicht klein beizugeben.“
In diesem Moment kam die Bedienung zu uns und wir bestellten angenehme Getränke des Sommers, obwohl in der Luft schon die Kühle des Herbstes lag. Und mein alter Freund Stefan Gruber beendete versöhnlich seine Weltsicht mit den scheinbar lapidaren Worten: „Ansonsten geht’s mir ganz gut. Passt schon. Und was beschäftigt Dich derzeit am meisten?“
Dienstag, 27. September – Gedanken
Manchmal wagt man nicht zu sprechen. Man befürchtet, dass die Worte nur eine Karikatur der eigenen Gedanken abzugeben vermögen.
Montag, 26. September – Nebel der Welt
Draußen liegt Nebel über der Welt, wie fein verstäubte Tränen. Und ich erinnere mich an die Gedanken der Nacht. All die Gespenster der Erinnerung, die mir aufzeigen, wo wir auf den vergangenen Wegen falsch abgebogen sind und dann die Abzweigungen und die Möglichkeiten zur Umkehr verpaßt haben. Der schwere Satz Adornos kommt wie ein schwarzer Vogel immer wieder zu mir und will in meiner Gedankenwelt ein Nest bauen: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ Man hat ihn ja oft anders gedeutet und damit aus dem schwarzen Vogel der Melancholie und Ratlosigkeit die manchmal flatterhafte weiße Taube der entschuldigenden Naivität gemacht: Was soll man schon tun? Es gibt ja sowieso kein völlig richtiges Leben! Und nun am Morgen bleibt nur die Müdigkeit der durchwachten Nacht und tiefe Ratlosigkeit.
Sonntag, 18. September – Melancholie des Wartens
Melancholie des Wartens auf das Unbekannte. Und die große Frage nach Veränderung. Und wieder denke ich an das Zitat von Thomas von Aquin: „Und traurig blickt der, der ich geworden bin, auf den, der ich hätte werden können.“
Mittwoch, 31. August – Herbstliche Herzen
Mittlerweile liegt der Herbst in der Luft. Und wieder zittern die Herzen, da es der letzte Herbst sein könnte.
Und sogleich liegt ein Abschied in der Luft. Auch wenn es kein endgültiger ist, kein unwiderruflicher.
Noch blicke ich auf die kleinen Notizen und Verheißungen des Sommers. Wie auf einem Kalenderblatt, das allmählich vergilbt, finde ich den Eintrag: „Küsse sind Verheißungen, dass wir uns im Anderem selbst finden.“
Dienstag, 30. August – weniger Gedanken
Es ist eine schöne Formulierung und damit recht eigentlich ein schöner Wunsch im Deutschen, dass man sich „weniger Gedanken machen soll“. Wer das dem anderen wünscht, der sorgt sich um ihn und möchte, dass er zur Ruhe findet. Beunruhigendes, Verstörendes und damit Belastungen, die nicht zuletzt krank machen können, gibt es ja genügend.
Und gleichzeitig ist es genau so schwierig, wie eben gut gemeint, dass man sich weniger Gedanken machen soll. Denn es ist ja eben kein selbstgesteuerter Prozess, in dem man selbst Gedanken „macht“ und deren Produktion mit Willenskraft verringern oder verändern könnte.
Unsere Gedanken sind ein hochkomplexes Gebäude, voller Erinnerungen, Beurteilungen der gegenwärtigen oder vergegenwärtigten Eindrücke und der damit verbundenen Gefühle und tief verankerten Emotionen. Um es ganz verkürzt zu sagen: unsere Gedanken sind letztlich wir selbst, wie wir geprägt wurden und wie wir uns selbst geprägt haben.
Und doch verweist dieser gute Wunsch auf diese spirituelle Ebene, die wir gestalten können. „Weniger denken“ kann dann vielleicht sogar „mehr denken“ meinen, in dem Sinne, dass wir uns fokussieren auf die beruhigenden Momente, auf das was uns trägt, was Quelle der Ruhe sein kann. Nennen wir es meditieren, betrachten, vielleicht beten oder in manchen Momenten einfach einen anderen Wunsch umsetzen, einfach den Eindrücken und Emotionen ihren Lauf lassen und „abwarten und Tee trinken“.
Samstag, 20. August – Rom und New York
So stelle ich mir Rom vor. Auch wenn sich alle für das nötigste der einen Sprache bedienen, so hört man doch an jeder Ecke einen anderen Zungenschlag und die Menschen und ihre Vorfahren kommen aus allen Herren Länder. Manche Viertel tragen es noch im Namen, China Town und beispielsweise Little Italy, aber es sind doch alle Kontinente vertreten und sie alle gehen auf in einer geteilten Kultur dieser Weltgroßstadt.
Erfahrungen der Masse: Der Blick geht immer nur bis zur nächsten Häuserschlucht und wenn es überhaupt so etwas wie einen Horizont gibt, dann liegt er hinter den Hochhäusern, die ihn erahnen lassen. Und jedes Mal, wenn wir aus den Tiefen der Untergrundbahnen auftauchen, geraten wir in einem schier nicht enden wollenden Strom von Menschen.
Bücher sind Gedanken, die auf uns warten.
Selten habe ich es so deutlich erlebt, wie in dieser Stadt, dass wir völlig über unsere Verhältnisse leben. Jede Mahlzeit, jedes Getränk produziert hier Mengen an Abfall. Nichts wird wieder verwendet, sorgfältig bewahrt und sein Wert bedacht. Im Laufe eines jeden Tages füllen sich die Gehsteige mit Müllsäcken. Und daneben sitzen manchmal Menschen, die noch nach Resten des Verwertbaren suchen.
Mittwoch, 10. August – Nachtgedanken
Engel der Erinnerung: Manchmal schenkt uns jemand eine Nähe, ein Verständnis unserer Selbst und einfach jenes innere und äußere Umfangen, das wir Liebe nennen. Und in diesem Momenten schlüpfen Menschen in die Rolle von Engeln. Manchmal gelingt uns die Verwandlung für den Anderen. Engel sind Botschafter des Göttlichen.
Gespenster der Erinnerung: Nun tauchen wie apokalyptische Reiter die Erinnerungen in meinen Träumen auf. Es waren schon drei, die mich an Arbeit und Pflicht mahnten. Nun bin ich gespannt, ob ein weiterer auftauchen wird.
Donnerstag, 4. August – Die Wunden des Landes
In diesem Land sind die Wunden längst verheilt. Allein die Namen deuten noch auf die verschiedenen historischen Schichten hin, die sich unter der Oberfläche der Gegenwart verbergen. Es vermengen sich Namen der Flüsse, Seen und Berge aus der Sprache der Puyallup mit den Bezeichnungen europäischer Herkunft, wie Paradise, Olympion bzw. Olympia, Aberdeen.
Man spricht von native American und ist dann doch überrascht, dass die neue Welt hier, am Ende des langen Zuges in den wilden Westen erst Anfang des 19. Jahrhunderts ankam und die letzte Festschreibung der Rechte und Ansprüche jenes Volkes, das in der Bucht des heutigen Tacoma und von Seattle erst 1989 erfolgte.
Wir besuchen im wildlife park eine Handvoll Bisons und lesen auf den Tafeln, dass man diese Spezies vor dem Aussterben bewahrt hat.
Montag, 1. August – Ferialzeiten
Der Begriff hat mir schon immer gefallen – Ferialzeiten. Wenn ich mich recht erinnere, hatte ich ihn bei Arno Schmidt entdeckt. Und später war ich ganz enttäuscht und sogar eine wenig verärgert, dass mir die Faszination mit dem Wissen genommen wurde, dass es sich schlichtweg um einen synonymen Begriff für „Ferienzeit“ im österreichischen Deutsch handelt.
Denn der Zauber bleibt ja, wenn wir vom Alltag in den Urlaub übergehen und uns damit von einer Form der Lebensgestaltung und Wahrnehmung in eine andere bewegen. Die äußere Reise bietet immer die Chance, sie auch zu einer inneren Reise werden zu lassen.
Freitag, 29. Juli – Kraft des Aufbegehrens
Und es fehlt einfach die Kraft, aufzubegehren. Ein mutiges „Trotzdem“ diesem Leben entgegen zu schleudern, braucht Energie, die nicht schon längst aufgebraucht ist. Der Sound des Sachzwanges hat uns taub gemacht.
Donnerstag, 28. Juli – Oase (Gedichtfragment)
Mittlerweile hab ich akzeptiert,
Dass es eine Wüste ist,
Durch die es zu gehen gilt
Und keine liebliche Landschaft
Und doch ist der Weg erträglich,
Da ich um die Oase weiß,
Die mich wieder aufrichtet
Und Kraft gibt für den Weg.
Du bist mir die Oase in der Wüste
Die mich erhält und erfrischt
Und am Leben hält
Und ich will Dir auch eine sein!
Donnerstag, 21. Juli – heitere Abgründe
Manchmal ist das Absurde an der menschlichen Existenz gut auszuhalten. Verfangen fühlt man sich im Labyrinth, das man doch auch heiter durchschreitet.
Das Wissen um die Unmöglichkeit, völlig verstanden zu werden, vermengt sich mit verständnisvoller Zustimmung beim Hören zeitloser Musik. Und es bleibt die immense Faszination des Menschen zwischen den Abgründen des Tierischen und dem Glanz des Erhabenen.
Mittwoch, 20. Juli – Bamberg
Im Schatten der Domtürme verspüre ich eine unsagbare Lust an diesem Leben. Welch ein Kontrast: der ehrwürdige Dom mit seiner tausendjährigen Geschichte und dieser Moment der gegenwärtigen Erotik des Lebens. Doch alle Lust will Ewigkeit!
Freitag, 15. Juli – die Klarheit des Morgens
Wenn die Kühle der Nacht noch in der Luft liegt und dennoch der Morgen mit neuem Licht sich zeigt, dann hat die Betriebsamkeit den Tag noch nicht erfüllt und die Welt zeigt ein klares Bild von sich und - gespiegelt in ihr - auch von uns.
Donnerstag, 14. Juli – Lachen (Gedichtfragment)
Dein Lachen macht das Leben zum Fest.
Du verzauberst es zur Fahrt mit dem Karussell,
in dem sich das Leben voll Freude dreht.
Draußen mag das Leben trist sein,
vielleicht auch träge und gelegentlich bedrohlich.
Hier drehe ich mich um Dich mit Deinem Lachen.
Schenk mir noch eine Fahrt auf dem Karussell,
sie ist voll Lust und Erfüllung
und lässt das Absteigen vergessen.
Donnerstag, 14. Juli – Wertvoll (Gedichtfragment)
Wertvoll bist Du mir, wie das unerwartet gefundene Wasser in der Wüste.
Und ängstlich versuche ich es einzufangen,
einen möglichen Verlust erahnend.
Wertvoll bist Du mir, wie der geborgene Edelstein nach mühevollem Graben,
der das Licht des Lebens spiegelt,
während ich die Dämmerung fürchte.
Wertvoll bist Du mir, wie das gefundene Ei, das neues Leben verheißt.
Und das ich nicht wage zu fassen,
da ich fürchte, es im Festhalten zu brechen.
Wertvoll bist Du mir, ein Geschenk des Laufs der Zeit,
das ich gefangen in den Netzen der Vergangenheit,
Nicht für die Zukunft annehmen vermag.
Freitag, 8. Juli – Tarnmantel
Manchmal spürt man das Überwerfen des Tarnmantels. Man ist immer noch im selben Leben, aber alles erscheint in einem anderen Licht. Plötzlich gewinnt alles eine andere Perspektive.
Donnerstag, 7. Juli – Angst
Die Angst um den Anderen als Form der Liebe. Vielleicht die quälende Seite, vielleicht auch die Tiefe. Sie zeigt uns das Wertvolle.
Sonntag, 3. Juli – Gott ist kein Buchhalter
Gott ist kein Buchhalter. Er wird nicht aufrechnen nach guten Taten und in klaren Spalten unser Handeln nach Soll und Haben gliedern. Er wird die Liebe nicht verwalten. Er wird die Jahre nicht in einem Ergebnis darstellen und sie in der Jahresrechnung vortragen auf das kommende, wie es die Buchhalter tun.
Gott ist kein Buchhalter. Es werden andere Maßstäbe sein, andere Blickwinkel, andere Kategorien und ein anderer Fokus.
„Und wenn Ihr alles besitzt“, schreibt sein Apostel, „habt aber die Liebe nicht, seid ihr nichts.“
Samstag, 25. Juni – In der Kühle der Kirche
Nun sammle ich einfach nur einzelne Worte für ein Gedicht, da mir schlichtweg die Sprache und auch die Form fehlt. Denn ich trete gedanklich ein in die Sphäre des Religiösen und spätestens dort wird uns deutlich, dass wir ganz unterschiedliche Grenzen der Sprache kennen. Grenzen des Sagbaren und Beschreibbaren und Grenzen des Verstehens der jeweiligen Sprache des Anderen. Immer noch habe ich viele Formeln im Kopf, viele Versatzstücke, die ich aus der Kinderzeit und der damit verbundenen Glaubenswelt gerettet habe und die sich früher zu einem Gebet zusammenfügen ließen.
Manchmal sind es auch noch ganze Zeilen, der Psalm 23 ist so ein zum Gebet verdichteter Text: „Der Herr ist mein Hirte, nichts wird mir fehlen. Er läßt mich ruhen auf grünen Auen und führt mich zum Ruheplatz am Wasser. (…) Muss ich auch wandern in finsterer Schlucht, ich fürchte kein Unheil; denn du bist bei mir, dein Stock und dein Stab geben mir Zuversicht. Du deckst mir den Tisch vor den Augen meiner Feinde. Du salbst mein Haupt mit Öl, du füllst mir reichlich den Becher. Lauter Güte und Huld werden mir folgen mein Leben lang, und im Haus des Herrn darf ich wohnen für ewige Zeit.“
Im Sommer genieße ich es in ganz besonderer Weise, einen kurzen Stopp einzulegen, um eine Kirche zu besuchen und damit den Tag zu unterbrechen. Ganz im Sinne des Theologen Metz, von dem die „Kürzeste Definition von Religion: Unterbrechung“ stammt. (Johann Baptist Metz, Glaube in Geschichte und Gesellschaft, Mainz 21978, S. 150). Diese Besuche gibt es weiterhin, aber immer mehr fehlt die Sprache, um bei diesen Besuchen auch zu beten. Es werden immer mehr Besuche der staunenden Betrachtung der Architektur, des Genusses der kühlen Raumtemperatur bei schwirrender Hitze und der faszinierenden Wahrnehmung eines anderen Raum- und Zeitgefühls.
Dienstag, 14. Juni – Aufmerksame Zeitzeugen
Die eigene Krankheit anerkennen. Die Verletzungen und die nicht heilen wollenden Wunden. Grenzen und Fragilität des Seins ertragen und beachten. Das Herzrasen der Zeit bemerken.
Montag, 13. Juni – Bewahren
Die kurzen Momente der klaren Erkenntnis festhalten und bewahren. Das ist nur möglich durch die Erzählung mit ihrer Kraft der Bilder.
Es gilt kollektiv und es gilt individuell: Wir müssen die fragile Annäherung an Weisheit und Wahrheit festhalten. Wir müssen sie bündeln und erkennbar machen in Bildern, Geschichten und Mythen. Die Würde des Menschen ist so eine Erzählung, die Bilder und Mythen benötigt, um sich zu entfalten.
Und ebenso müssen wir uns den Gegenbildern stellen: den Verletzungen und Kränkungen, dem Zerstörerischen und dem Negativen.
Sonntag, 12. Juni – Pfingstreise nach Auschwitz: Ein Itinerarium
Nun sind wir wieder zurück von unsrer Reise. Und mein digitales Notizbuch ist voller Stichpunkte. Vor allem sind die Namen der besuchten Orte und der damit verbundenen Gedanken verzeichnet. Es ging los am Pfingstwochenende und der Weg führte von Nürnberg in Richtung Auschwitz. Wir waren alle in einem eigenen Schwebezustand, denn zum einen wussten wir nicht so genau, was uns erwarten würde und natürlich verbanden wir gleichzeitig viele Vorstellungen und Bilder mit unserem Reiseziel.
Die Stationen sind schnell aufgezählt: Der Weg führte über Pilsen mitsamt Übernachtung im Umland, nach Brünn mitsamt einem Kurztreffen mit Theresa Klinger nach Oswiecim, mitsamt einem Besuch der Franziskaner-Minoriten. Dann steht nur „Auschwitz“ in großen Buchstaben bei den Wegemarken. Am Abend eines langen Besuchstages ging es weiter nach Wieliczka mitsamt Besichtigung des Bergwerkes und von dort nach Krakau. Nach Entdeckungstouren durch diese wunderbare Stadt geht es wieder zurück über Ostrava mitsamt einer bierseligen Nacht in einer Schrebergartenkneipe und Budweis mitsamt Umkreisung des Marktes und der Fleischbänke nach Amberg mitsamt des Besuchs der Pfingstdult und von dort schließlich nach Nürnberg.
Seit der Antike kennt man sogenannte Itineraria, also Beschreibungen der Wegstrecken. Und oftmals reicht es, nur den Namen zu schreiben, um all die Bilder wachzurufen. Bei einer Reise nach Auschwitz reicht allein dieser Ortsname. Mehr braucht es eigentlich nicht.
Und so fällt es mir schwer, aus diesen Stichpunkten eine größere Reisebeschreibung folgen zu lassen und aus diesem kurzen Itinerarium eine richtige Schilderung der äußeren und inneren Eindrücke werden zu lassen.
Vielleicht genügt es auch grundsätzlich: ein kurzes Gedankentagebuch reicht als Vorlage, um aus diesem stichpunktartigen Redemanuskript zu gegebener Zeit eine Erzählung folgen zu lassen.
Samstag, 4. Juni – Fortsetzung Briefwechsel – Paradies
Liebe Mareike, Danke, dass Du den Faden wieder aufnimmst und mich damit bewegst, weiter über unsere Vorstellung vom Paradies nachzudenken. Meine letzten Gedanken liegen einige Zeit zurück (Tagebuchgedanken vom 2. April) und wenn ich Dich richtig verstehe, bleibst Du bei diesem individuellen Fokus und öffnest die Frage nach der persönlichen Entwicklung und Veränderung … ich kopiere Deine Antwort hier noch rein:
„Ich glaube nicht, dass man das Paradies und die damit verbundenen Gedanken, Zustände oder gar Wünsche verallgemeinern kann. Für eine kleine Gruppe mag es funktionieren, aber für alle Menschen sicher nicht. Zu sehr weichen doch Wünsche ab, sind zu individuell. Sei es das Leben an sich. Die Lebensumstände allgemein. Die Arbeit, Religion. Sicherlich wünscht sich jeder Frieden und ein freundliches Miteinander, aber das schon als Paradies zu sehen? Das wären dann eher paradiesische Zustände. Aber das Paradies ist für mich eher das Ultimative, das non plus Ultra, etwas, was man nicht mehr steigern kann. Einfach das Beste, das möglich ist.
Ich denke, der Gedanke oder Traum vom Paradies ist und bleibt für jeden sehr individuell. Was für den einen perfekt ist, ist für anderen ganz anders, vielleicht sogar das Gegenteil.
Ich finde die Frage interessant, inwiefern sich das Paradies für einen jeden selber wandelt, im Laufe des eigenen Lebens. Sicherlich hat man mit 20 eine andere Vorstellung als mit 50 oder 60. Im Laufe des Lebens macht man Erfahrungen, geht den Weg vielleicht in eine andere Richtung als man dachte und schon befindet man sich ganz woanders.
Ist das dann nun Vorbestimmung? Schicksal? Können wir uns vielleicht dem großen Ganzen gar nicht entziehen? Folgen wir dann dem Weg oder werden wir unbewusst gelenkt?
Aber das wären vielleicht neue Fragen…“
Deine Trennung der beiden Begriffe – Paradies und „paradiesische Zustände“ halte ich für sehr hilfreich. Denn meine Fragen nach der Verallgemeinerung und damit einer übergreifenden und von vielen Menschen geteilten Vorstellung vom Paradies rücken ihn näher an den Begriff der Utopie. Irgendwann würde ich da gerne nochmals darauf zurückkommen. Denn ich glaube weiterhin, dass es eine vermittelbare und damit allen Menschen zugängliche Utopie eines vollendeten Lebens gibt - und als Triebfeder gemeinsamen Handelns auch braucht. Nur noch kurz: Neben der Einsicht, dass wir einen Ausgleich und damit ein neues Verständnis der Einheit von Mensch und Natur benötigen, bleibt nach meiner Meinung eine gemeinsam getragene Vorstellung, dass es eine Organisation des menschlichen Zusammenlebens geben könnte, die von Solidarität, Achtung, Wertschätzung und damit Liebe geprägt ist. In allen Religionen gibt es wunderbare Erzählungen darüber, dass Menschen befreit von den zerstörerischen Antrieben wie Habgier, Haß etc. zu einem Paradies finden können, das von Liebe und Wohlergehen aller geprägt ist. Und Du schreibst zurecht … das wollen ja irgendwie alle – „Frieden und ein freundliches Miteinander“ – aber inwieweit kann es auch zum handlungsbestimmenden Leitbild werden? Wo kann ein utopisches Bild eines guten Lebens (wie im Konzept des buen vivir im lateinamerikanischen Verständnis) für Alle auch dazu führen, gerechtere Strukturen zu schaffen. Wie kann es Menschen mobilisieren, sich nicht nur für das eigene Wohl einzusetzen, sondern für das größtmöglichste Wohl der größtmöglichen Anzahl von Menschen weltweit? Da bin ich immer noch bei meinen Fragen nach den großen und menschenbewegenden Erzählungen, die wir irgendwie nicht mehr haben.
Aber zurück zu Deinem individualistischen Blick, den ich teile: Das Glück und die Erfüllung und damit das eigene Paradies als Idealvorstellung des eigenen Lebens ist sicher so vielfältig wie es Menschen selbst sind. Und in der Tat – in diesen Vorstellungswelten kann das Paradies des einen, sogar die Vorstellung der Hölle des anderen sein. Und zweifelsohne ändern sich diese Vorstellungen im Laufe der eigenen Biographie mitsamt ihren Lebensabschnitten. Die wenigsten Menschen dürften mit 20 den gleichen Erwartungshorizont haben als mit 50 oder 80 Jahren. Allein die Glücksmomente im Spannungsfeld von einem geselligen oder einem einsamen Leben, ändern sich je nach Lebensumständen.
Ob nun diese Veränderung auch etwas mit Vorherbestimmung und Schicksal zu tun hast, wie Du vermutest? Ich meine, das ist ein sehr fragiles Wechselspiel. Zum einen orientieren wir uns sicher an Vorstellungen von einem guten Leben, während wir unsere Erfahrungen damit abgleichen und gleichzeitig das Idealbild auch ändern, das die Orientierung vorgibt. In der Reflexion geben wir die Puzzlesteine der Begegnungen, Erfahrungen und Gedanken in das größere Bild des Lebens und seiner Sinnstiftung. Und dabei können wir uns dem „großen Ganzen“, wie Du schreibst, nicht entziehen. Ich selbst kann mir nicht vorstellen, woher man ohne eine religiöse Grundierung und damit einem Urvertrauen in die Sinnhaftigkeit des Daseins überhaupt, nicht einem radikalen Schicksalsglauben verfallen sollte, der schließlich in Fatalismus bzw. Determinismus und somit Nihilismus endet. Das ist nun wirklich eine andere Frage – aber sie hat weiterhin mit den großen Erzählungen zu tun, in die wir unsere kleine Lebensgeschichte hineinweben.
Mittwoch, 1. Juni – Kurzgeschichte: Die Kränkungen der Katze
Nun bin ich nicht der große Katzenfreund, aber Mimmi hatte es mir in diesem Sommer angetan. Und grundsätzlich hatte ich das Gefühl, dies beruhe irgendwie auf Gegenseitigkeit. Zumindest begrüßte sie mich immer, wenn ich vorbeikam und schmiegte sich an meine Beine als eindeutiges Zeichen, gestreichelt werden zu wollen. Ihr Schnurren war wie ein Motor, den ich nur mit wenig Streicheleinheiten zuverlässig zum Laufen bringen konnte.
Gleichzeitig waren die Rollen auch klar verteilt. Offensichtlich erahnte sie, dass ich eben nur zu Gast war und kümmerte sich sofort um die Mutter des Hauses, von der neben Streicheleinheiten auch Nahrung und Getränke zu erwarten waren. Eines Morgens brachte Mimmi eine tote Maus und legte sie vor unseren Füßen ab, während wir frühstückten. Erwartungsvoll blickte sie zu ihrer Herrin und erst nachdem sie lange mit Nichtachtung bedacht wurde, auch zu mir. Unmissverständlich deutete sie mit ihrem schwarz-weiß gestreiften Köpfchen auf die erlegte Beute und erwartete Lob und Beachtung. Auch mir wurde verboten, ihr Anerkennung zu zollen und sie schon gar nicht durch Streicheln zu ermuntern, weiterhin durch Beute Beachtung zu suchen. Aber all dies schien ihre Bemühungen nur zu verstärken. Auch in den kommenden Tagen brachte sie erlegte Mäuse und auch mal ein Vogelküken, auf das sie besonders stolz schien und dementsprechend lange auf die wohlverdiente Beachtung wartete. In solchen Momenten fragte ich mich, wie oft wir selbst die Katze sind und keine Beute genug ist, uns Achtung und Anerkennung zu verschaffen. Und ähnlich wie die Katze scheinen wir nur dieses Muster zu kennen, um erfüllende und notwendige Zuwendung zu erhalten.
Einen Tag vor meiner Abreise tauchte sie ebenfalls zur Essenszeit mit einer Maus auf, die noch lebte. Vor unseren Augen ließ sie das halbtote Opfer kurz entkommen, um es dann wieder einzufangen. Auch dieses mehrfach vorgeführte Kunststück brachte ihr keine Anerkennung, sondern dieses Mal sogar Beschimpfungen ein.
Mit gesenktem Kopf und traurigen Blick zog Minni schließlich von dannen. Ihre traurigen Augen werde ich nicht vergessen und ich frage mich, ob es ihre Welt nicht grundsätzlich verändert hätte, wenn sie wenigstens einmal gelobt worden wäre.
Sonntag, 29. Mai – Domäne der Kunst
Ein wunderschönes Zitat (der Rest folgt): „Vielleicht ist es so, dass wir es in der Domäne der Kunst mit einem Raum zu tun haben, wo die Schönheit und das Böse einander gegenüberstehen (und gleich daneben das Leiden).“ Adam Zagajewski: Poesie für Anfänger. Essays, S. 116
Freitag, 27. Mai – Kirchentag
Der Zauber der Erzählung und die revolutionäre Kraft der Botschaft werden nur noch verwaltet.
Donnerstag, 26. Mai – Christi Himmelfahrt
Ein Gottesdienst im Freien und es haben insgesamt acht Gemeinden eingeladen zu dieser Feier.
Immerhin sind die Bänke fast alle besetzt und gemeinsam hat man so eine Festgemeinschaft zusammengebracht, die wohl vor einigen Jahrzehnten noch von einer einzigen Gemeinde gefüllt worden wäre.
Die Musik ist immer noch raumgreifend – Posaunenchor und Gospelsongs abwechselnd zur Erbauung der Zuhörenden.
Die Texte und Fürbitten entsprechen den Erwartungen und bleiben in einer eigenen Kirchensprache verhaftet. Es würde mich interessieren, wie es Menschen aufnehmen, die keinerlei Gewöhnungseffekte und damit auch die Fähigkeit der Einordnung mit dieser ganz eigenen Sprache verbinden.
Und übrigens frage ich mich, wie fahrlässig vereinfachend wir manchmal von dem Großen sprechen, das wir Gott nennen.
Dienstag, 24. Mai – Prediger in St. Sebald
Immer wieder ein wunderbarer Ort. Wenn es Räume gibt, die den Blick nach oben lenken, so sind es gotische Kirchen.
Und ich lausche auch den Predigten (und Ansprachen). Heute sind es mehr die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, denen wir zuhören. Philosophen, Psychologen, Historiker und Soziologen mit ihrer Nähe zum Priestertum: als kundige Welterklärende.
Aber ein jeder Prediger, dem die Demut fehlt, erreicht nicht das Herz der suchend Hörenden.
Samstag, 21. Mai – Samstag ins Grüne
Heute habe ich mich gefragt, warum wir die rote Rose sofort mit Leidenschaft und Hingabe verbinden und die weiße dagegen eher als Symbol des Abschieds. Ist es reine kulturelle Konditionierung?
Und es war ein wunderbarer Tag – allein die lange Fahrt durch das Maigrün einer erwachenden Landschaft und schließlich die erfüllende Lust am Leben.
Donnerstag, 19. Mai – Gottesfrage der Tochter
Was machst Du eigentlich? - Ich lerne für Reli. Morgen Klausur. – Um was gehts? – Religionsbeweise und Religionskritik und so. – Aha, also das ganze Programm von Thomas bis Marx und Nietzsche, oder? – Jaja – Und hast Du schon einen Überblick – Ja, paßt schon. (Kurze Stille) Sag mal, glaubst Du eigentlich, Papa? – Oh, also: Ja, ich glaube. Ich glaube, dass es eine größere Kraft gibt, die erfüllen kann und die wir Gott nennen. Und ich glaube an das Gute, die Liebe und ich glaube an Jesus, der uns den Weg weisen kann, dieses Göttliche zu finden. Und naja – also ganz kurz heißt die Antwort also auf jeden Fall Ja – interessant!
Mittwoch, 11. Mai – Kurzgeschichte: Entdeckung des Göttlichen
Unser Hotel lag direkt an einer Auffahrt zur fünften Ringstraße und wenn ich auf Freunde wartete oder mich die Zeitverschiebung mitten in der Nacht wachhielt, setzte ich mich auf die Stufen davor und sah dem nicht abreißenden Strom auf der Straße zu. Auch Peking war eine Stadt, die niemals schlief. Aber in anderer Weise als New York – hier herrschte eine andauernde und disziplinierte Betriebsamkeit. An der fünften Ringstraße lag die Grenze zwischen dem früheren Großraum und den ehemaligen Außenbezirken und wer sich fragt, wie die Versorgung all dieser Menschen in der ausufernden Metropole funktioniert, muss nur zusehen: Ob nun am hellen Tag oder in tiefer Nacht, hier bringen unentwegt Lastwagen ihre Waren, verteilen Fahrradfahrer und Fußgänger mit Handwagen lebende Tiere und andere Nahrungsmittel. Und immer dazwischen Motorrad-Rickschas, die schlichtweg alles transportierten, natürlich auch Personen.
Vor dem Hotel standen immer ein bis zwei der ramponierten Gefährte, die man aufgrund des Lärms überall auf der Welt Töff-Töff nannte, auch wenn sie allmählich elektrisch fuhren, um den Smog zu verringern.
Immer, wenn ich meinen Beobachtungsposten bezog, sah ich ihn. Und da wir beide, zusammengeführt durch das Schicksal wie eine Tangente, die aus dem Nichts kommend einen Kreis berührt und wieder ins Nichts verschwinden würde, hatte ich Zeit, ihn zu beobachten. Er ruhte in sich und wartete. Seine Bewegungen waren nie hektisch, schnell oder abrupt, sondern eher fließend und doch wirkte er nicht gelangweilt, hatte wache Augen, die das Umfeld betrachteten und immer wieder ein Lächeln, das Zufriedenheit und Wohlwollen ausstrahlte. Im jüdisch-christlichen Verständnis sehen wir den Menschen als ein Ebenbild Gottes. Das heißt, Jede und Jeder trägt etwas Göttliches in sich und damit etwas Wertvolles und Besonderes, das wir Würde nennen. Das indische Sanskrit kennt eine Grußformel, die auf Ähnliches verweist: Namasté bedeutet so viel wie: Ich grüße das Göttliche in Dir! Vielleicht haben auch chinesische Philosophen diese besondere Ausstrahlung des Menschlichen in seiner Schönheit und Anmut beschrieben?
Natürlich kennt jede und jeder den Moment der Entdeckung der Schönheit, erst recht, wenn sich Faszination mit Erotik vermengt und man sich verliebt. Aber es gibt auch dieses Entdecken des unbeschreibbaren Schönen, des Guten im Angesicht des Anderen, das wir auch göttlich nennen. Und es ist nicht immer zu finden, sondern wird oft verdeckt durch andere Emotionen, die ebenso menschlich sind. Der Mensch kennt die Fratze des Bösen ebenso wie den Glanz des Göttlichen. Vielleicht ist nötig, Zeit und Muße aufzubringen, dieses Göttliche im Anderen zu entdecken. Hier am anderen Ende der Welt hatte ich diese Muße und durfte im Gegenüber des namenlosen Rickschafahrers eine Verbundenheit des Menschlichen über alle Sprachen, soziale Unterschiede und kulturelle wie regionale Differenzen erfahren.
Irgendwann trafen sich unsere Augen und wir lächelten uns einander wohlwollend und verständnisvoll zu.
Mittwoch, 11. Mai – Nachtrag zu Religion und Politik: St. Lorenz
Die letzten Tage habe ich auch teilgenommen an muslimischen und jüdischen Gebeten. Und es waren erfüllende Momente der Ruhe oder dessen, was wir einmal „innere Einkehr“ nannten. Es ist zu spüren, wie ein Raum – ob nun offiziell charakterisiert als Synagoge, Moschee, Gebetsraum oder auch nicht – zu einem heiligen Boden werden kann.
Heute Abend bin ich eingeladen nach St. Lorenz in Nürnberg und ich spüre eine ganz eigene Form der Beheimatung. Hier bin ich also in ganz anderer Weise zu Hause. Die ganze Bildersprache und die wunderbare Architektur. Es ist ein Ort, an dem ich ebenso staunend mit offenen Mund wie ein Kind um mich schauen wie als Erwachsener meditierend zur Ruhe kommen kann. Eben eine Heimat oder das Gefühl, bei sich zu Hause zu sein.
Montag, 9. Mai – Religion und Politik
Eine Tagung hat uns zusammengebracht: Juden, Muslime und Christen, die alle aus ihrer konfessionellen Überzeugung heraus politische Bildung gestalten. Die Angebote der christlichen Akademien und Bildungseinrichtungen haben eine lange Tradition und sind weiterhin bundesweit gut vertreten, aber mittlerweile gibt es auch einige muslimische Akademien und Bildungseinrichtungen in Deutschland.
Es ist für mich ein Jungbrunnen und ein großer Motivationsschub, wie hier Menschen um die Demokratie und ihre Sicherung durch (politische) Bildung ringen.
Wir brauchen dieses plurale System von Bildungsanbietern und wir brauchen dringend Verteidiger der liberalen Demokratie und ihrer Grundlagen.
In diesem gemeinsamen Ringen sind wir längst zu Freunden geworden und ich spüre die religiöse Orientierung in ihrer Unterschiedlichkeit als Bereicherung: Auch wenn mir bewusst wird, wie sehr mir doch manche Formen der Liturgie und Spiritualität fremd bleiben. Aber im Gespräch werden sie erklärbar als Weltdeutung und das Geheimnis als Kern des individuellen Glaubens darf bleiben – eben bereichernd und nicht bedrohend.
Sonntag, 8. Mai – ein Sonntag im Mai 2022
Ein Sonntag im Mai, der mich gleich nach dem Aufwachen willkommen heißt mit einem hellen Blau und einem ebenso strahlenden Weiß des Himmels, erfüllt mit einem ganz eigenen Leuchten. Es ist schwer zu beschreiben, aber allein dieser Blick aus dem Schlafzimmerfenster vermittelt ein Gefühl von Frühling, von Erwachen und Erblühen.
Und irgendwo ist Krieg. Und „irgendwo“ ist mittlerweile so nah. Und der Himmel ist dort genau so blau und verheißungsvoll.
Samstag, 7. Mai – Blaue Nacht
Alles erstrahlt in Blau. Nürnberg zelebriert zum 21. Mal die „Blaue Nacht“ als abendlich-nächtliches Kulturevent. Insgesamt strömen nach Zählungen der Stadt 140.000 Menschen durch die Gassen und Straßen und bevölkern die Plätze. Alles ist voller Licht und Musik und laden ein, die Stadt durch die eigenartige Illuminierung neu zu entdecken.
Aber heute ist es mir zu laut, zu voll, zu plakativ und zu sehr die Aufmerksamkeit erheischend und die Sinne dominierend. Auf dem Heimweg ergehe ich mich in düsteren Fragen über die Aufrechterhaltung der Kunst und ihrer emanzipatorischen Wirkung gegenüber ihrer vereinnahmenden Kommerzialisierung.
Allerdings: Vielleicht bin ich schlichtweg zu müde nach einem langen Arbeitstag, zu erschöpft für die Reizflutung und in Gedanken immer noch missmutig bei der weiterhin unerledigten Arbeit auf dem Schreibtisch. Und persönliche Erschöpfung ist leicht mit allgemeinem Kulturpessimismus zu verwechseln.
Freitag, 6. Mai – Bildende Kunst bei Faber-Castell
Nach so langer Zeit endlich wieder auf einer Vernissage. Und erst durch die Begegnungen – sowohl mit den Menschen als der Kunst – spüren wir, was wir vermisst haben und jedes Gespräch beginnt mit dieser Freude.
Etwas gedankenverloren sehe ich mir die Abschlusspräsentation des Studiengangs bildende Kunst der Akademie Faber-Castell an. Vier Künstlerinnen haben sich über Jahre mit Kunst beschäftigt, um ihren Themen einen Ausdruck zu geben. Unterschiedliche könnten die Arbeiten von Maria del Pilar, Andrea Schimek, Krystyna Steffens und Elena Sterbini nicht sein. Nur eine Sache vereint sie: Das gemeinsame Streben und der Versuch, durch die Kunst das Leben zu greifen, seiner habhaft und für den Moment sicher zu werden.
Da gibt es Portraits und mit ihnen die Fragwürdigkeit des Unterfangens, der Individualität und Authentizität im Bild zu begegnen. Eine große Frage, erst recht im Zeitalter der permanenten Selbstinszenierung. Da gibt es großformatige Acrylarbeiten, die auf marmorierten Grund mit Versatzstücken der Kunstgeschichte und der Moderne spielen. Da ist man verloren und fragt sich, ob das darin eingespielte Facebook-Emblem und ein Flugzeug wirklich die Zeichen unserer Zeit beschreiben. Da gibt es Fisuren und Linien, die einen Weg zeigen und damit zeitlose Formen der Bildsprache und schließlich gibt es da nahezu fotorealistische Darstellungen von Wurzelgeflechten von Bäumen, die ebenso weite Interpretationen und so etwas wie Bildmeditationen zulassen.
Ganz dankbar schlendern wir wieder zurück Richtung Schloß über den Fluß an der alten Bleistiftfabrik in Stein, in dem die Akademie untergebracht ist. Was wären wir ohne Kunst – und damit diese Auseinandersetzung der kleinen und großen KünstlerInnen mit dieser verwirrenden Welt.
Donnerstag, 5. Mai – Schloß Suresnes
Wir sitzen auf der Terrasse über dem Rondell im Schloß Suresnes in Schwabing und blicken auf den französischen Garten zu unseren Füßen. Hier ist ein schöner Ort, um nachzudenken. Ein Elysium für Intellektuelle. (Und natürlich auch alle, die sich dafür halten.) Unsere Blicke ruhen auf dem gegenüberliegenden Hauptgebäude der katholischen Akademie.
Die Szene erinnert mich an ein Interview mit dem damaligen Kanzlerkandidaten der SPD Björn Engholm, der in einem Interview auf die Frage, was seine Lieblingsbeschäftigung sei, geantwortet hatte: Am liebsten sitze er in seinem Weinberg und denke über das Los der Arbeiterschaft nach. Ein Reporter des Spiegel hatte ihn dann auch gleich zur Toskanafraktion gezählt, auch wenn der Hanseate nur seinen kleinen Rückzugsort im Rheinischen gemeint hatte. Aber in der Tat: Im eigenen Weinberg kann man vortrefflich über das Schicksal der arbeitenden Bevölkerung nachdenken. Und hier in diesem Schloß über den Auftrag von katholischen Akademien heute.
Nach einem anregenden Abend unter KollegInnen lese ich noch schnell bei Wikipedia nach: Das Schlößchen, in dem ich gerade übernachten darf, hat eine äußerst bewegte Geschichte. Es war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Haus der Kunst und der Bildung, ein Schwabinger Treffpunkt. Aber hier wurde auch Ernst Toller verhaftet, nachdem er sich beim blutigen Niederschlagen der Räterepublik vor den Schergen der Gegenrevolution versteckte.
Es sind die alten Fragen, die mich wach halten: Wann muß man verstärkt den Beobachtungsposten verlassen, um die Welt zu verändern. Wo ist die Grenzlinie, die eine Veränderung nicht mehr durch Reform ermöglichen läßt, sondern Revolution erfordert.
Mittwoch, 4. Mai – Das Leben ist Fragment
Heute morgen bin ich aufgewacht mit dem Begriff des „Fragments“. Irgendwie hatte der im halben Bewußtsein zwischen Schlaf und Erwachen formulierte Satz: „Mein Leben ist derzeit ein Fragment“ eine immense Kraft und innere Wahrheit.
Fragmente sind Bruchstücke, Teile von Etwas und damit immer behaftet mit dem vermeintlichen Makel des Unvollendeten.
Zum einen hat der Satz etwas Resignierendes: Es ist nicht gelungen, etwas Ganzes, Vollendetes zu schaffen. Es ist nicht möglich, allen gerecht zu werden. Es ist illusorisch, alle Rollen auszufüllen.
Zum anderen hat der Satz etwas Tröstliches: Alles Leben ist Teil von etwas Größerem und darf Fragment bleiben. Ein Bruchstück verweist auf das Ganze, manchmal sogar verheißungsvoller und auch geheimnisvoller als der vermeintlich erfasste Überblick.
Und im positiven Sinne mündet der Blick auf das Leben als Fragment auf eine meiner Lieblingsmetaphern für Persönlichkeiten und das Leben: das Mosaik und das Kaleidoskop.
Das eigene Leben als Gesamtkunstwerk und auch das Schreiben als Kunst der Gestaltung ist gelungen, wenn die anderen daran teilnehmen und die Bruchstücke für sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Ganz im Sinne eines Satzes von Susan Sontag: „Das Fragment scheint die angemessene Kunstform unserer Zeit zu sein“. (Susan Sontag: The Doors and Dostojewski. Das ‚Rolling-Stone‘-Interview, München 2016, S. 73.)
Samstag, 30. April – Sisyphos
Gerade heute denke ich an Sisyphos und beginne mit der Überarbeitung einer Kurzgeschichte zu einem Gespräch mit meinem Freund Selva Raj. Irgendwie ist es eine sperrige Geschichte und dennoch finde ich mich in diesem Bild wieder und lese die Geschichte heute als große Metapher: Wie oft wälze ich Felsbrocken aus der Vergangenheit mühsam in die Höhe und damit in die Gegenwart meines Lebens und immer wieder rollen sie zurück.
Sisyphos in Tamil Nadu
Wir haben eine lange Fahrt vor uns. Auch wenn es von Madurai im südlichen Indien nach Kodaikanal nur etwa 120 km sind, werden wir mit dem altersschwachen Bus der katholischen Sozialstation mehr als einen halben Tag unterwegs sein. Aber dadurch ist endlich Zeit, die verwirrenden Eindrücke mit unserem Freund und Begleiter Selva Raj zu besprechen.
Wir waren gemeinsam unterwegs mit den Dalits, wie sich die sogenannten „Kastenlosen“ oder „Unberührbaren“ selbst bezeichnen. Und ich bin immer noch verwirrt, dass dieses archaische Kastensystem im 21. Jahrhundert ungebrochen fortbesteht, das soviel Leid durch Ausgrenzung und Ausbeutung bringt. Täglich! Und der Kampf für die Rechte der Dalits gleicht einer Sisyphosarbeit. „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“ heißt es bei Camus und damit konnte ich noch nie etwas anfangen. (Das Zitat bei Albert Camus, Der Mythos des Sisyphos, Reinbeck 2004, S. 159f.) Selva bewegt seinen Kopf, als wolle er eine querliegende Acht in die Luft zeichnen, was in Südindien gleichbedeutend ist zu einem zustimmenden Kopfnicken. Wir lachen über meine interkulturelle Dummheit als ich ihm erkläre, dass ich dieses Zeichen anfangs als Kopfschütteln und damit falsch als Ablehnung gedeutet hatte.
Selva erzählte, dass eine ähnliche Geschichte in Indien erzählt wird. Die Legende berichtet von Naranath Branthan, der ebenso wie Sisyphos einen Felsbrocken immer wieder auf den Berg schiebt, um sich dann am Gipfel allerdings riesig zu freuen, wenn er wieder ins Tal zurückrollt. Zum gleichnamigen Berg im nahegelegenen Bundesstaat Kerala pilgern daher die Menschen zum „Madman of Naranam“, den sie als Heiligen verehren. Und Selva faßt kurz zusammen und meint, es sei auf jeden Fall besser über die Absurdität des Lebens zu lachen, als an ihr zu verzweifeln.
„Nun, Camus hat es sicher ganz anders verstanden“ versuche ich den europäischen Existenzialismus zu erklären, während wir auf den staubigen Straßen Südindiens unterwegs sind. Der Mensch revoltiert gegen die Sinnlosigkeit des Daseins, in dem er dennoch die Herausforderung annimmt. Für ihn ist das Leben absurd, da wir immer an der Spannung leiden zwischen der Sinnlosigkeit des Lebens und unseren gleichzeitigen Wunsch, unserer Existenz Sinn zu verleihen. Es bleibt uns die Freiheit zu handeln, auch wenn der große Plan nicht aufgeht und das Ziel nicht erreicht wird. Sartre hat es dann in einem Satz zusammengefasst: „Wir sind zur Freiheit verurteilt!“
Nun widerspricht Selva ebenso entschieden wie lachend und verweist auf das christliche Verständnis: Dir Formulierung des Paulus im Galaterbrief sei ihm dann doch sympathischer: „Ihr seid zur Freiheit berufen!“ und so beendet er unseren Austausch, um bei einer Rast Tee zu trinken. Als er meine melancholische Nachdenklichkeit bemerkt, fügt er hinzu: „Wenn Du magst, können wir auch mal rüberfahren zum Berg des „Madman of Naranam“ und herzlich über die Absurdität des Lebens lachen. Das tut gut und man kann am nächsten Tag wieder zu Arbeiten anfangen.“
Donnerstag, 28. April – gegen die geistige Müdigkeit
Und überall nehme ich eine geistige Müdigkeit wahr, die ansteckend und lähmend ist. Und Ja,- manches ist verständlich: Ja, es ist für uns alle ermüdend gewesen, mit dieser Pandemie umzugehen. Und Ja, der Krieg in der Ukraine hat noch einmal vor Augen geführt, wie machtlos wir gegenüber dem Bösen sind und wie trügerisch unser Glaube an den Fortschritt war. Und Ja, dies alles macht müde, verstärkt die Erschöpfung und aus der gefühlten Trostlosigkeit erfolgt Resignation. Und Ja, der Sound des Sachzwanges und damit die üblichen Spiele der Alltagsroutinen erschöpfen uns. Und ja, es sind auch Zeichen der Dekadenz, dass wir mit vollem Bauch in warmen Zimmern nicht mehr die Kraft des Aufbegehrens und Handelns finden.
Denn wir haben die Möglichkeit, uns für Etwas zu entscheiden und auch an der einen oder anderen Stelle das System zu ändern, wie mühselig es auch sein mag. Die kleinen Schritte und damit jedes noch so kleine Handeln für ein Mehr an Humanität sind möglich. Der alte Spruch ist kein zu belächelnder Kinderreim: „Wenn viele kleine Leute an vielen kleinen Orten viele kleine Schritte tun, dann werden wir das Gesicht der Welt verändern“ (Übrigens wahlweise ein afrikanisches Sprichwort, Leitgedanke des global Marshall Plans oder etwas abgewandelt ein Zitat von Dom Hélder Cámara).
Es ist an der Zeit, gegen die geistige Müdigkeit aufzubegehren!
Montag, 25. April – Nachdenken und Zaudern
Es ist an der Zeit, das Nachdenken gegen den Vorwurf des Zauderns zu verteidigen.
Sonntag, 24. April – Mittelgebirge
Mittlerweile liebe ich die Mittelgebirge. Sicher auch deshalb, weil man mit zunehmendem Alter eine innere Sehnsucht nach der vertrauten Umgebung der Kindheit verspürt. Das Meer ist wunderbar in seiner Weite und der nahezu unendlich scheinende Blick zum Horizont lässt die real erlebbare Welt mit der metaphysischen Dimension des Himmels verschwimmen. Und ebenso wunderbar sind die majestätischen Gebirge: wie sehr kann man sich geborgen fühlen in ihrem Schatten, wenn wir sie vor und um uns haben, wenn sie groß und mächtig an Gestalt und Wirkung die Unendlichkeit begrenzen und damit das Gefühl verschwinden lassen, sich zu verlieren.
Vielleicht sind Mittelgebirge auch der Kompromiss – oder noch besser gesagt, nach all den Jahrhunderten der Erdgeschichte, wo sie aus Meeren aufgeschüttet oder durch Gebirge abgetragen wurden die gemäßigte, gebändigte Natur zwischen den Extremen. Mein Auge gleitet über die von Brücken überwundenen Einschnitte, die man gerne als „sanfte Täler“ bezeichnet und der unten sich schlängelnde Bach erinnert an den wunderbaren Psalm 23, der den „Ruheplatz am Wasser“ besingt. Man erkennt deutlich, dass der Mensch sich diese Natur erschlossen hat: Felder und Wiesen sind deutlich als Rodungen zu erkennen und damit an Nutzgebiete, die dem Wald abgerungen wurden.
Es ist ein Heimkommen, die Seele überblickt die vertraute Landschaft und ist bereit, sich niederzulassen.
Samstag, 23. April – Farbe und Spiritualität
Heute habe ich den druckfrischen Ausstellungskatalog der Bundeskunsthalle zugesandt bekommen. Es dreht sich bei der aktuellen Schau alles um Farbe – „Farbe ist Programm“ ist daher der Titel, auch der gleichnamigen Veröffentlichung.
Und ohne Übertreibung: es ist ein intellektuelles Panoptikum und eine über hundertseitige Einladung, über uns und unsere Welt „in Farbe“ nachzudenken. Wie sehr ist doch unser Sein verwoben und durchzogen mit Farben, ihrer Wahrnehmung und Prägung. In dieser Jahreszeit fehlt uns das Grün und wir sehnen das Licht herbei, für das wir kein anderes Wort als weiß haben. Und welche Farben hat der Sommer und die Freude, der Herbst und die Melancholie und natürlich auch der Winter in seiner Klarheit. Aber auch andere Gefühle haben ihre Farben und die Tiefen der Kunst kommen ohne sie nicht aus, auch die Musik.
Eine Empfehlung für heute, die Ausstellung zu besuchen oder eben wie ich den Katalog zu wälzen: https://www.bundeskunsthalle.de//farbe.html bzw.: Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Farbe ist Programm, Wien (Verlag für moderne Kunst) 2022.
Und in aller Bescheidenheit… im Katalog gibt’s auch einen Beitrag von mir: Kunst und Spiritualität, hier ist er:
Kunst und Spiritualität
Vielleicht kann man zuweilen den Kern des künstlerischen Schaffens in einem Satz zusammenfassen: Die Eröffnung einer spirituellen Dimension durch die Mittel der (bildenden) Kunst! Nun ist „Spiritualität“ ein schillernder Begriff. Spontan würde man ihn einfach als das Gegenteil des rein Materiellen beschreiben. Es geht irgendwie um das Transzendente, den Geist und Sinn hinter den Dingen. Der Begriff kann vieles meinen, von der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit Sinn- und Deutungszusammenhängen unseres Daseins, über unser persönliches wie gesellschaftliches Verhältnis zum unantastbar Wertvollen, Heiligen und Unerklärlichen, bis hin zu persönlichen Formen einer geistigen Annäherung durch Betrachtung, Meditation, Gebet. Der Begriff ist eigentlich neu: Er taucht erst Anfang des 20. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebrauch auf und erfährt seit den 1960er Jahren seine Entfaltung. Zuvor war Spiritualität gleichzusetzen mit Religiosität oder Frömmigkeit. Um es kurz zu sagen: Spiritualität war außerhalb von Religion nicht denkbar. Religionssoziologen erinnern sich an das päpstliche Schreiben Evangelii nuntiandi von 1975, in dem Papst Paul VI. das Auseinanderbrechen, den Riß zwischen Kunst bzw. Kultur und Religion bedauerte, der nicht mehr rückgängig gemacht werden könne.
Und dennoch wirkt diese vormoderne, religiöse Bildersprache weiter fort. Carsten Fock bezeichnet sie gerne als Rucksack, den er stets mit sich trage. Alle seine Werke kreisen um die großen Fragen des Menschlichen und damit um Spiritualität (als säkularisierter Form der Religiosität). Man denke nur an die Titel seiner Ausstellungen: God is in the House, Glaube und Verzweiflung, Die Würde und der Mut, Kosmos der Angst, The Devil.
Und die Auseinandersetzung ist dabei ein Prozeß,- sowohl bei der Entstehung der Bilder, wie auch bei deren Betrachtung. Die Beschäftigung mit dem Kunstwerk ist wie eine Meditation. Ganz in der Tradition der Kirchenväter wie Thomas von Aquin, die Betrachtung und Farbenlehre als Zugang zum Jenseitigen würdigten.
Farben waren für die katholische Kirche stets Symbol und Selbstwirksames zu gleich. Die Farben der Herrscher, das mäjestätische Purpur und das wertvolle Gold wurden zu den Attributen des göttlichen Erlösers und des Heiligen. Das Rot des Kampfes wurde zum Zeichen des Martyriums, das Grün des Frühlings und Erwachens zum Verweis auf das Wort Christi: „Sehe, ich mache alles neu“. Bereits im frühen Mittelalter wurden die Farben zum festen Bestandteil der Liturgie und seit dem Konzil von Trient sind sie verpflichtend vorgeschrieben. Im Zyklus des Kirchenjahres wechseln sich das Weiß (und Gold) der Auferstehung und des Triumphes über das Böse, Rot als Symbol von Blut und Feuer wie auch des Heiligen Geistes, Grün als Farbe der Erneuerung und (neben weiteren Sonderfarben) mit Violett ab.
Das Blauviolett ist für viele in seinen unterschiedlichen Schattierungen und übrigens auch mit verschiedenen Bezeichnungen in besonderer Weise eine geistige Farbe. Sie repräsentiert das Geheimnisvolle. Blauviolett ist das Sinnbild für Veränderung, Verwandlung und Übergang. Auch bei der Begräbnisfeier kann sie daher statt Schwarz verwendet werden. Sie kennzeichnet den Advent als Vorbereitung und Erwartung der Geburt Christi und ebenso die Fastenzeit als Übergangsphase zur Auferstehung und Erlösung. In den (katholischen) Kirchen werden noch heute Kruzifixe und Bilder in Kirchen violett verhüllt, um dann zu Ostern wieder enthüllt und damit geoffenbart zu werden.
So sind Farben ganz wesentliche Zeichen und Verweise auf eine andere Welt und eröffnen damit Spiritualität einen Raum.
Gründonnerstag, 14. April – Kartage
In diesem Jahr erlebe ich die Kartage in ganz intensiver Weise. Und das liegt nicht daran, dass ich sie im Kloster verbringe. Es liegt sicher zum einen an den weltpolitischen Entwicklungen und zum anderen an meiner eigenen Stimmungslage und damit daran, dass sich das zweitere mit dem ersteren verstärkt und zu einer besonderen Schwere verdichtet.
In meiner Kindheit war klar, die Kar- und die Ostertage gehören eng zusammen. Man erinnerte sich mit mancherlei Bräuchen an das Leiden und Sterben Jesu Christi: Es verstummten die Glocken, das gesellige Leben wurde gedrosselt und es gab keine Süßigkeiten, sondern nur ein Fastenessen. Aber es war immer klar, dass es sich um die Vorstufe zum Fest und damit auch um die Vorbereitung von Ostern handelte, das Fest voller Licht und Freude und damit auch der freudigen Ausgelassenheit und des Genusses (mitsamt wunderbarer Süßigkeiten).
Und auch heute wünschen wir uns schnell „frohe Ostern“ und überspringen damit diese Tage zuvor. Und ich bin mir sicher, dass meine Grußformel bei e-Mails in der letzten Woche, mit der ich meinen Gesprächspartnern „besinnliche Kartage und ein frohes und frohmachendes Osterfest“ gewünscht habe, nur noch Adressaten in der kirchlichen Welt verstehen.
Der Begriff, so hatte ich es später (und damit erst im Germanistikstudium) gelernt, leitet sich vom althochdeutschen Kara (bzw. dem germanischen karõ) ab, das für die Klage oder Wehklage, den Kummer oder die Sorge und die Trauer steht.
Wie sehr bietet das Jahr 2022 Anlaß zur Wehklage, zur Trauer über den Schmerz und die Machtlosigkeit! Wie oft möchten wir ausrufen: „Ecce homo“, sehet - wie es in der Leidensgeschichte Christi sinnbildlich heißt, - sehet den Menschen in seiner Not, seinen Schmerzen, in seiner unmenschlichen Behandlung! Man möchte schreien und verstummt in der Sprachlosigkeit, man möchte handeln und erstarrt in der Machtlosigkeit.
Gerade in diesem Jahr 2022 wird deutlich, dass die Tage des unerlösten, des schrecklichen, des boshaften Lebens nicht so einfach aufgehen im Licht der Auferstehung und der Erlösung. Johannes XXIII. hatte einmal so schön formuliert: „Habt nur Mut, die Passion dauert nur drei Tage und der Rest der 365 Tage im Jahr gehören der Auferstehung!“ Das ist ein schöner Gedanke, aber er greift in dieser Verdichtung zu kurz. Denn diese Tage werden deshalb nicht so einfach leichter, weil wir auf die Auferstehung vertrauen dürfen. Im Angesicht des Mordens, des Leidens,- aber auch angesichts der ganz persönlichen Unfähigkeiten und Verstrickungen möchten wir auch ausrufen: „Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“
Es gibt eben keinen billigen Zauber, der das Böse besiegt. Und das am liebsten ein für alle Mal. Das Böse, das Vernichtende, das Negative gehört zu unseren menschlichen Möglichkeiten mitsamt seinen subtilen Verflechtungen durch innere Zwänge und Ängste. Dieser Erkenntnis blicken wir während der Kartage in die Augen oder besser gesagt, wir blicken in die hässliche und widerwärtige Fratze des Menschlichen. Und wir erkennen, dass es immer wieder aufs Neue die Kraft braucht, sich dagegen zu stemmen, die Humanität und damit die radikal andere Seite des Menschlichen im Kampf zu retten, so wie das Licht das Dunkel vertreibt, die Wärme die Kälte, der Morgen die Nacht.
In diesen Kartagen erlebe ich es in besonderer Weise: die erschütterte Hoffnung auf die Kraft, die uns verändert und aus der wir heraus einen neuen sinnerfüllten Antrieb finden zur Gestaltung dieser Welt.
Mittwoch, 13. April – sich selbst fremd
An manchen Tagen ist man sich selbst fremd. An manchen Tagen steht man neben (oder wahlweise logotherapeutisch über) sich selbst und fragt sein eigenes Ich: Was tue ich da?
Martin Walser hat einprägsam geschrieben: „Wer andauernd begreift, was er tut, bleibt unter seinem Niveau.“ Das klingt erstmal einladend und sympathisch, aber auf den zweiten Blick ist es auch erschreckend und ebenso abgründig (und) gefährlich.
Es bleibt die Erkenntnis, dass der Kopf nicht alles steuern kann und die tiefen Strukturen unseres Seins und die Muster alter Verhaltensmuster unser Handeln mehr bestimmen, als es unserem Bewusstsein lieb sein kann.
Die erkannte Notwendigkeit der Veränderung führt aufgrund ihrer Größe und Prägekraft zur Überforderung und zu einem Kampf wie gegen die mythologische Hydra mit ihren nachwachsenden Köpfen, die nur als Herkulesaufgabe zu bezwingen ist.
Freitag, 1. April – Gedankensplitter von Sartre
Als Student hatte ich mir ein Plakat über den Schreibtisch gepinnt mit einem Zitat von Jean Paul Sartre: „Ich habe in meinem Leben sicher viele Fehler gemacht, große und auch kleine, aber letztlich war es immer nur ein Fehler, nicht konsequent genug zu sein“. Das Plakat habe ich bei jedem Umzug mitgenommen, aber seit langem hängt es nur noch in Zwischenräumen und in dunklen Ecken der jeweiligen Wohnung, wo ich es immer weniger wahrgenommen habe.
Heute erinnere ich mich daran und nehme mir vor, das Plakat wieder über den Schreibtisch zu hängen.
Der Sound des Sachzwanges hat mich erfüllt, die Kraft des bereits von Anfang an mitgedachten Kompromisses und der mitfühlende Gedanke der nivellierenden Nachsicht. Alles Momente, die der Radikalität und Konsequenz entgegen stehen – aus jeweils guten Gründen. Es ist an der Zeit, konsequent zu werden!
Freitag, 25. März – Kardioversion
Manche Dinge muss man nicht wissen und will man gar nicht kennenlernen, zum Beispiel was eine Kardioversion ist. Um es kurz zu machen: Wenn das Herz aus dem Rhythmus gefallen ist, dann kann man es durch einen gezielten Stromschlag wieder dazu bringen, in einen gewohnten Ablauf zu kommen. Um es noch kürzer zu machen: Bei mir hat die Kardioversion geklappt: mein Herz schlägt wieder so, wie es schlagen soll.
Nun gäbe es zur Vorgeschichte viel zu erzählen. Die äußerst hohe Wahrscheinlichkeit, dass trotz vollständiger Impfung (mit Booster) die Corona-Erkrankung zu den massiven Herzrhythmusstörungen geführt hat. Und es gäbe viel von den Risiken zu erzählen: Das Vorhofflimmern, die Möglichkeiten von Schlaganfällen und Herzinfarkten und die Gefahr, dass dieser zentrale Muskel nicht mehr seinen gewohnten Gang findet und im Extremfall eben komplett ausfällt.
Aber es geht um zwei andere Dinge, von denen ich hier berichten will: Zum einen von der großen Dankbarkeit, die einem nach dem erfahrenen Verlust der gewohnten Selbstverständlichkeit des Herzschlags erfüllt und zum anderen der nötigen grundsätzlichen Kardioversion im übertragenen Sinne.
Es sind Gemeinplätze und Plattitüden, die an Trivialität nicht zu überbieten sind: Natürlich schätzen wir das Leben erst, wenn es für einen Moment gefährdet erscheint. Und in der Tat hat ein Gesunder tausend Wünsche und ein Kranker nur einen. Und last but not least erinnere ich an die bereits antike Weisheit, dass wir unser Leben immer vom Ende her denken sollten. Nun, es fallen uns viele weitere Redewendungen und Lebensweisheiten in existenziellen Momenten ein, die wir im Übergang zum Alltäglichen schon wieder vergessen haben. Daher ist mir auch bewusst, dass dieses tiefe Gefühl der Dankbarkeit eine Halbwertszeit hat. Aber zumindest das Niederschreiben hilft vielleicht, sie zu verlängern.
Zum anderen hat man viel Zeit zum Nachdenken, wenn man auf den Kardiologen wartet und in Anbetracht der gegenwärtigen Weltlage wird bewußt, wie sehr wir einen „Reset“ unserer persönlichen und gesellschaftlichen Lebensweise benötigen. Da ist längst der Rhythmus des Lebens gestört. Wir spüren es und die Deutlichkeit der nötigen Veränderung war selten so deutlich. Es war schon immer klar, dass etwas nicht stimmt, wenn ein T-Shirt für 5 Euro zu haben war, die Flugananas und Avocado für wenig Geld das ganze Jahr im Regal verfügbar ist und wir Rohstoffe von jenen kaufen, die Kinder arbeiten lassen und sich nicht um das Existenzminimum von Menschen scheren und Öl, Gas, seltene Erden und Wasser als Schmierstoff unserer Wirtschaft von Despoten und Diktatoren kaufen. Aber die Notwendigkeit zum „Reset“ war nie so deutlich, die Gefahr des Zusammenbruchs so klar erkennbar. Aber auch dieses Erkennen hat eine Halbwertszeit, wenn wir es nicht weiter pflegen.
Manche Dinge muss man nicht wissen und will man gar nicht kennenlernen, zum Beispiel was eine Kardioversion ist – im realen, wie im übertragenen Sinne.
Dienstag, 8. März – Kreuzwege
Vor genau einer Woche war ich in der Theresienkirche in Innsbruck (an der Nordkette nahe der Hungerburg) und die dort befindliche Darstellung der Kreuzigung kommt mir seitdem immer wieder in den Sinn.
Max Weiler (1910-2001) hat sie nach 1945 gemalt und ihre Entstehung wurde von einem regelrechten „künstlerischen Bürgerkrieg“ begleitet, - so ist es in der Dokumentation dort nachzulesen. Er hatte das Geschehen, dass Christus als Mensch ans Kreuz genagelt und ermordet wird in seine Tiroler Landschaft verlegt mitsamt Menschen in erkennbar Tiroler Tracht. Und es gab jene Fraktion, die eben nicht wollten, dass man die Kreuzigung, die Zerstörung eines Menschen, in der Gegenwart vor Augen führt und das Geschehen damit ins Heute überträgt.
Was für ein Bild in einer Zeit, die gekreuzigte Völker (im Sinne Oscar Romeros) kennt. Jeden Tag!
Samstag/Sonntag, 5./6. März – Omikron
Eigentlich halte ich es in diesen Tagebuchnotizen nur der Vollständigkeitshalber als Chronist dieser Tage fest. Denn was ich zu berichten habe, wird jene Zeitgenossen nicht wundern, die sich nunmehr seit Jahren mit Corona beschäftigen und erst recht nicht Zweifler überzeugen: Nun bin ich also positiv auf Corona getestet worden und so erklärt sich auch diese unsäglich starke Grippe am Wochenende. Trotz dreifacher Impfung (und damit frühzeitigen Booster) hat mich nicht nur Husten und Schnupfen, sondern auch Schüttelfrost und immenser Kopfschmerz im Griff.
Daher kann ich nur allen zurufen: Lasst uns diese Epidemie weiter ernst nehmen!
Aschermittwoch, 2. März – Wahrheit ist symphonisch
Der Aschermittwoch und seine Feier mit der Auflegung des Aschenkreuzes ist von einer hohen Symbolik, die mich immer wieder erfaßt oder sogar ein bißchen erschaudern läßt: „Memento homo, quia pulvis es et in pulverem reverteris“. Es zeichnet der Priester mit Asche ein Kreuz auf die Stirn – oder jetzt in Zeiten von Corona ohne Kontakt – streut Asche auf meinen Kopf und erinnert daran, dass wir alle Staub sind und zu Staub zurückkehren werden. Kann man stärker daran erinnert werden, dass es uns um Wesentliches gehen sollte?
Bei der diesjährigen Feier wird der Theologe Hans Urs von Balthasar zitiert mit seinem kleinen Büchlein: „Die Wahrheit ist symphonisch“. Im Untertitel wird klar, worum es ihm dabei ging: Die Darstellung des christlichen Pluralismus.
In diesen Zeiten spricht mich seine Verteidigung der pluralen Zugänge zu der einen Wahrheit in besonderem Maße an. Denn auch in der Politik, auch in gesellschaftlichen Zusammenhängen darf und muß die Wahrheit symphonisch sein und wir müssen alle aushalten – sofern wir es nicht sowieso als Genuß empfinden – dass es eben nicht nur einen Grundton, eine Melodie dieser Welt gibt. Und gleichzeitig sollte in dieser Symphonie dennoch ein Kontrapunkt erkennbar sein – wenn also verschiedene Stimmen zwar gleichberechtigt nebeneinander stehen, aber einen gemeinsamen harmonischen Bezugspunkt haben. Und im Politischen kann dieser Bezugspunkt nur die Würde des Menschen sein, durchdekliniert in den Menschenrechten. Sonst wird aus der harmonischen Symphonie eine häßliche Kakophonie.
Sonntag, 27. Februar – Gedanken
An manchen Tagen würden die Gedanken einer Stunde einen ganzen Roman füllen.
Und derzeit ist die Komplexität schwer auszuhalten, zwischen den eigenen kleinen Lebenswelten und den Bildern aus einer völlig anderen Realität direkt vor unserer Haustür. Krieg und Frieden.
Samstag, 26. Februar – Tirol und Kiew
Der Blick aus dem Fenster läßt einem das Herz aufgehen: Das Innsbrucker Tal liegt im herrlichen Sonnenlicht und hier an der Nordkette scheint die Welt einfach in Ordnung.
Hier fühle ich mich auf eigenartige Weise zuhause und denke an das kleine Dorf in der nördlichen Oberpfalz, in dem ich geboren und aufgewachsen bin. Hier wie dort der vertraute Kirchturm in der Mitte der Häuser, gleich gegenüber das Rathaus bzw. die Verwaltung und auch Gaststätten zur Einkehr, kleine Geschäfte zur Versorgung und auch nicht weit davon der Friedhof. Es hat alles weiterhin seine Ordnung, auch wenn nun manche Dinge leerstehen und sich erkennbar verändern. Aber es bleibt ein Heimatgefühl: Es gibt hier eine gewachsene Kultur des Zusammenlebens und der Sinndeutung. Diese Beheimatung ist verbunden mit Enge und der Beschränktheit des Blickes, aber es gibt auch (die Seilbahn und) den Zug, der in die Ferne und Weite hinaus führt.
Das ist doch Europa, denke ich mir. Diese unterschiedlichen Formen der Beheimatung: auf dem Dorf, in den Kleinstädten und den wenig wirklich so zu bezeichnenden Großstädten.
Vor Augen habe ich die Kornkammer Europas, die Ukraine und das Leben dort auf dem Land und den Städten.
Kiew denke ich mir, auch eine solche Stadt, die man nicht mehr bereisen wird wie früher, die man nicht mehr erleben wird können wie früher, da sie gerade ihre Geschichte verliert. Europa ist im Krieg.
Freitag, 25. Februar – Innsbrucker Gedanken
Die Bilder gehen nicht aus dem Kopf: Vorrückende Panzer, Frauen und Kinder auf der Flucht und Menschen, die in europäischen Städten Molotowcoktails befüllen, um sich zu verteidigen.
Und gleichzeitig fahren wir über das Faschingswochenende in den Schnee zum Skifahren. Es soll von Innsbruck aus zum Axumer Lizum gehen, zum Patscherkofel und vielleicht auch noch zur Rosshütte bei Seefeld. Ein paar unbeschwerte Tage in Österreich und von dort wäre es gar nicht weit an die ukrainische Grenze.
Und gleichzeitig kümmere ich mich um ganz andere Dinge und ich denke an die Schilderungen zum Café Slavia in „Die wunderbaren Jahre“ von Reiner Kunze: „War ich froh, dass es nur die Panzer waren“.
Diese doppelte Wahrnehmung unseres Europa wird uns die kommenden Tage begleiten, diese völlig unvereinbaren Welten.
Donnerstag, 24. Februar – ein Angriffskrieg in Europa
Völlig fassungslos sitzen wir vor dem Fernsehgerät und können es nicht glauben. Der Tag wird in die Geschichte eingehen, an dem ein Angriffskrieg mitten in Europa begann und damit ein Gesamtgefüge gesprengt und sich bisher geglaubte Sicherheiten in Luft aufgelöst haben. Fast sehnt man sich nach den Zeiten des Kalten Krieges zurück und damit in unsere Jugendzeit, in der uns die Grenzlinie zwischen Ost und West mitten in Europa völlig bewußt war, aber wir doch bei allem Säbelrasseln und aller Bedrohungsszenarien nie davon ausgingen, dass der kalte Krieg in direkter Nachbarschaft in einen heißen Krieg eskalieren könnte.
Völlig fassungslos sitzen wir vor dem Fernsehgerät und müssen uns eingestehen, dass wir so vieles falsch eingeschätzt haben. Auch wir hatten in den vergangenen Monaten versucht, die Bedürfnisse Rußlands abzuwägen und angstvoll in beide Richtungen geblickt: Der immer stärkeren Aggression des Kremls schien manchmal eine eigenartige Positionierung der Nato mitsamt großer Geschichtsvergessenheit gegenüberzustehen und der kraftlosen Diplomatie wurden durch die Wirtschaftsinteressen die Grenzen gesetzt.
Völlig fassungslos sitzen wir vor dem Fernsehgerät und es ist bereits an diesem Abend deutlich, dass dieser Überfall unendlich viel Leid mit Vertreibung, Tod, Zerstörung mit sich bringen wird.
Dienstag, 22. Februar – Krieg in Europa
Putin hat mit der russischen Anerkennung der sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk seinen Angriffsplan offengelegt. Viele sprechen bereits vom Ausbruch eines Krieges, den es doch recht eigentlich bereits seit 2014 gibt und der seitdem schon rund 13.000 Menschenleben gekostet hat.
Es ist einfach nur traurig. Und man könnte es als billiges Schmierentheater abtun, wenn es nicht so viel Leid, Tod, Unglück bedeuten würde.
Der Große nimmt sich einfach ein Stück vom Kleineren und die Anderen schauen zu, da man es sich nicht so ganz mit dem Großen verderben will. In welchem Jahrhundert leben wir?
Sonntag, 20. Februar – Straßenexerzitien
Ja, wir werden Menschen wie ihn vermissen. Durch ihn habe ich gelernt, dass Spiritualität nicht das Hochgeistige sein muss, sondern auch das Geerdete sein kann, das Versteckte im ganz Irdischen, das Anpackende ohne viel Worte, das Laute beim polternden Aufbegehren und das Leise beim einfachen Dasein und Zuhören. Danke an Christian Herwartz, wir werden Dich vermissen!
Er war „Arbeiterpriester“,- das heißt, er hat ganz normal in einem Betrieb als Dreher gearbeitet und wollte als Priester den Menschen „auf Arbeit“ einfach nahe sein. Und dann entwickelte (oder besser entdeckte) er die Straßenexerzitien – mitten in Berlin Kreuzberg. (Vgl. sein Buch im Echter Verlag: Brennende Gegenwart. Exerzitien auf der Straße). Auf seinem Unterarm war der „brennende Dornbusch“ tätowiert – sein Leitmotiv für die Begegnungen auf den Straßen. Es gibt immer einen „heiligen Boden“, auch dort, wo wir ihn nicht vermuten. Und genau dort werden wir unerwartet angesprochen, ganz direkt wie Moses vor diesem Dornbusch, in dem sich das Göttliche offenbarte.
Montag, 14. Februar – Olympiade und Ukraine
Im Fernsehzimmer sehen wir gemeinsam die Nachrichten. Sie werden beherrscht von der Olympiade in China und den Konflikten um die Ukraine.
Neben mir sitzt eine vornehme Dame, die wie ich den Kopf schüttelt und immer wieder kurz seufzt.
Der olympische Geist ist längst und endgültig dem großen Mammon geopfert. Man hört von diesem sinnentleerten Theater und keine Meldung über einzelne Sportleistungen kann darüber hinwegtäuschen, dass ein absurdes Stück aufgeführt wird. Macht und Geld in den Hauptrollen.
Und die Bilder aus der Ukraine sind schwerlich zu ertragen. Allein die Sprache ist immer wieder verräterisch. Von den „beiden Seiten“ ist zu hören, als ginge es um gleichberechtigte Gegner, von einem „drohenden Krieg“, als wäre nicht seit Jahren das Land im Belagerungs- (im Osten) und im zermürbenden Gefechtsstand (an den Grenzen) und von den westlichen Werten wird schwadroniert, die es zu verteidigen gelte.
Wir schütteln beide den Kopf und verlassen nachdenklich den Fernsehraum. Wohl wissend, dass wir hier in einem Sanatorium – trotz aller körperlichen Beschränkungen – in einer ganz eigenen Behausung auf einem paradiesischen Eiland leben, das fern ist von Kriegsgefahr, von Hunger und Angst, von Not und drohendem Tod. Zum Abschied reicht mir die Dame ihre Hand – verzeichnet und verkrümmt von Jahrzehnten der rheumatischen Erkrankung - und wünscht mir von Herzen alles Gute für die Zukunft.
Dienstag, 8. Februar – Es ist genug
Es ist genug! Es gibt niemanden, der einfach laut und deutlich sagt, es ist genug. Und das nicht befehlend, sondern fürsorglich. Es ist genug geleistet worden, genug an Arbeit eingebracht, genug an Sicherheit und Erworbenen geschaffen.
Und diese Botschaft wäre so wichtig – gesellschaftlich (soziologisch und ökonomisch) wie ganz individuell (psychologisch).
Es gibt niemanden, der sagt, Du bist genug. Du bist genug, so wie Du bist.
Vielleicht haben wir es erhofft von unseren Eltern, die nicht fähig waren, uns diese anerkennende Liebe zu schenken. Auch sie haben von ihren Eltern diesen Satz nicht gehört und selbst nicht erfahren, was es bedeuten könnte, „unconditional love“ zu erfahren, wie es so schön im englischen heißt, wenn es eben Wertschätzung erfährt, einfach zu sein und angenommen zu werden ohne Konditionen, ohne Bedingungen und Leistung.
Der Verweis auf das Göttliche - dass Gott uns vorbehaltlos liebt und annimmt und eben diese bedingungslose Liebe entgegenbringt, bleibt manchmal zu abstrakt. Denn dieser Gott benötigt unsere Zeitgenossen, um es uns vollumfänglich zu schenken (oder wir wären Mystiker und Heilige).
Und das Gefährlichste ist dabei, dass wir selbst stumpf dafür werden, wenn wir jemanden begegnen, der – vielleicht nur in Gesten und Taten und damit ganz leise - zu einem sagt: „Es ist genug!“
Es ist schwer, diesen Satz weiterzugeben, wenn man ihn selbst nicht gehört hat.
Sonntag, 6. Februar – der Mensch in seiner Erbärmlichkeit und Größe
In einem Sanatorium entwickelt man diesen doppelten Blick: Zum einen der Blick auf das Antlitz des Menschen in seiner Schwäche, Hilfsbedürftigkeit und Hilflosigkeit mit seinen Ausdünstungen und Ausscheidungen, in seiner Begrenztheit und seinen Zwängen. Zum anderen der Blick auf den Menschen in seinen Möglichkeiten, seiner durchgeistigten Größe, seiner Fähigkeit, in wahrhaft menschlichen Gesten etwas Göttliches zu verwirklichen, wie Liebe, Versöhnung und paradiesischen Frieden.
Freitag, 4. Februar – Infantilisierung
Ein Kuraufenthalt ist Tag für Tag ein Schritt zur eigenen Infantilisierung. Es gibt jemand, der für einen sorgt, den Ablauf des Tages festlegt, das Essen bereitet und Besorgungen erledigt.
Und ich spüre, wie schön es doch ist, wieder Kind zu sein.
Donnerstag, 3. Februar – das Recht zu schweigen
Der in machen Dingen umstrittene Philosoph Gilles Deleuze hat einen schönen Gedanken formuliert: Es gebe eindeutig ein Recht darauf, zu schweigen. Und man ist geneigt, heute hinzuzufügen, es sollte auch eine Pflicht sein. Denn es bedürfe erstmal des schweigenden Nachdenkens, bis man zu Einschätzungen, Haltungen und Aussagen kommt, die es dann erst wert sind, artikuliert zu werden.
Mittwoch, 2. Februar – Gnothi Seauton
Gnothi Seauton – erkenne Dich selbst – werde, der Du bist! Da soll über dem Apollotempel gestanden haben. Und diese Aufforderung durchzieht das Denken der griechischen Philosophen. Anfangs noch eher ernüchternd in dem Sinne, dass der Mensch seine Grenzen erkennen möge, seine Beschränkungen und seine Endlichkeit. Und dann immer mehr im Positiven als Ermunterung, sich um seine Seele zu kümmern, um durch Selbsterkenntnis zur Entfaltung der Persönlichkeit zu gelangen.
Im Gespräch darf ich heute daran erinnert werden, über meine Verortung im Leben nachzudenken, meine Freundschaften zu bedenken.
Und ich spüre, wie dieses Nachdenken den anderen benötigt. Es genügt nicht das Selbstgespräch, sondern es braucht den Dialog mit anderen, der einem den Spiegel freundschaftlich vorhält.
Montag, 31. Januar – Gegenteil von Narzissmus
In einem derartigen Sanatorium eröffnen sich neue Räume der Begegnung. Während ich eine neue Lebensgeschichte erfahren darf, eröffnet mein Gegenüber im Gespräch eine Oberfläche, auf der ich immer mehr erkennen kann. Lebenslinien, in hellen wir in dunklen Farben und die ganze Weite von Erlebnissen eines Menschen, die zu Erfahrungen verdichtet wurden. Wie der kontemplative Blick auf eine Wasseroberfläche erkenne ich eine neue Landschaft in dem Bild, das meine Gesprächspartnerin von ihrem Leben zeichnet und ich erahne die darunterliegende Tiefe. Und in diesem vertieften Schauen wird mein Gegenüber zu einem Spiegel, in dem ich mich selbst erkennen kann. Aber ich verliebe mich nicht wie Narziß in mein eigenes Bild, sondern verstehe mich selbst ein Stückchen mehr im anderen. Welch ein Geschenk.
Sonntag, 30. Januar – Meditation der Dankbarkeit
Den ganzen Tag liegt leichter Nebel in der Luft und taucht die Welt hier in den Modus der Vergangenheit, an die wir uns beim Betrachten schwarz-weißer Fotos erinnern.
Es ist schwer, nicht der Versuchung zu erliegen, die äußere Welt ins Innere mitzunehmen und melancholisch an die Verluste und Abschiede, die Trauer und Sorgen, die Niederlagen und Fehlentscheidungen zu denken und im Geiste auferstehen zu lassen.
Und so beginne ich mit meiner Meditation der Dankbarkeit und suche bewusst die Momente im Leben, die voller Licht waren, voller Freude und Schönheit. Und es tauchen so viele auf, von Momenten der Kindheit, die unbeschwert waren, von manchen Glücksmomenten der Jugend, wenn an der Gabelung des Lebens Freunde und Zufälle, den Fuß auf einen guten Weg lenkten, von den Weggefährten, die auf unsicheren und neuen Terrain Vertrauen und Mut schenkten. Denn wir brauchen diese Zuversicht, um getrost weitergehen zu können, denn wir gehen immer in neues Land, wenn wir als Kinder nicht wissen, was Jugend ist, als Heranwachsender was eigenes Leben bedeutet, als Erwachsene, was nun Alter sein mag.
Und so gehe ich in angenehmer Nachdenklichkeit durch diesen Tag und freue mich am Abend in unseren mittlerweile üblichen Abendgesprächen davon berichten zu dürfen.
Samstag, 29. Januar – Auf einen Espresso
Es hat ein kurzes Treffen „auf einen Espresso“ in der Cafeteria der Klinik gereicht, um das große Geschenk gegenseitiger, aufrichtiger Wahrnehmung neu entdecken und auch dankbar annehmen zu dürfen.
Vielleicht liegt es an dieser besonderen Atmosphäre einer Rehaklinik, dass ich es als unbeschreiblich beglückendes Gefühl erlebe, den Schmerz und die Erfahrung des Schmerzes teilen zu können. Denn wir sprechen die gleiche Sprache und wir brauchen keinen Dolmetscher.
Nun habe ich mich immer dagegen gewehrt, wenn in anderen Zusammenhängen einem Gesprächspartner abgesprochen wird, jemals eine adäquate Übersetzung zu finden und damit auch Empathie und Verständnis zu gewinnen. Natürlich kann ein Mensch mit Wohlstandsbiographie nicht so einfach einen Flüchtling verstehen, der Krieg und Vertreibung erlebt hat. Natürlich kann ein weißer Europäer die permanente Rassismuserfahrung schwarzer Menschen nicht so einfach verstehen. Und so weiter. Aber das heißt nicht, dass dieses Verstehen durch Übersetzungen möglich ist. Und was für die großen Fragen von Leid und Schicksal gilt, das gilt auch für andere schwer zu vermittelnde Erfahrungen.
Und so ist es ein beglückendes Gefühl, in den Erzählungen und im verständnisvollen Blicken des Anderen zu erfahren, dass wir die gleiche Sprache sprechen, von den gleichen Erfahrungen berichten.
Da denke ich an die schöne Szene in Ronja Räubertochter, die Astrid Lindgren so wunderbar beschreibt: „Lange saßen sie dort und hatten es schwer, doch sie hatten es gemeinsam schwer und das war ein Trost. Leicht war es trotzdem nicht.“ (Astrid Lindgren: Ronja Räubertochter)
Samstag, 29. Januar – Das gedruckte Tagebuch 2021
Ein ungemein schönes Gefühl, das ich auch allen wünsche, die gerne Notizen festhalten und sich die Welt gern schreibend erschließen: Halte gerade als erstes Exemplar die Tagebuchaufzeichnungen des vergangenen Jahres als gedrucktes Buch in den Händen: „Siegfried Grillmeyer: Sternschnuppen. Gedachtes und Gefundenes 2021, Norderstedt 2022.“
Eine gute Möglichkeit, Gedanken wieder aufzunehmen, weiterzuspinnen – wie an einem Strickzeug, das man zur Seite legt, um dann wieder weiter zu machen. (siehe Tagebucheintrag vom 8. Januar).
Freitag, 28. Januar – Psalm 120
Der Raum füllt sich nur ganz spärlich. Von rund vierhundert Gästen in diesem Haus haben sieben den Weg in die kleine Hauskapelle gefunden.
Die Pfarrerin hat keine Zeit für die Andacht, daher wird sie von der Organistin durchgeführt. Sie liest aus ihrem Lieblingsvers, den Psalm 120: „Ad dominum cum tribularer clamavi...“ Es ist der hoffnungsvolle Blick auf Gott, der nach allen Klagen und Bedrängnissen uns begleitet bei der Wallfahrt des Lebens.
Sie erzählt von der wunderbaren Vertonung bei Mendelsohn-Bartholdy, die sie immer wieder aufrichte und sie zitiert noch ergänzend die bekannten Verse aus dem Neuen Testament (Matthäus 6,26): „Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie säen nicht, sie ernten nicht und sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? Wer von euch kann mit all seiner Sorge sein Leben auch nur um eine kleine Zeitspanne verlängern?“
Die Botschaft - nicht nur diese Verse, sondern ganz allgemein die christliche Botschaft erreicht heute nicht mehr die Menschen. Und auch von uns sieben können nur wenige die Gebetstexte auswendig und verstummen sogar beim Vaterunser.
Die Botschaft wäre es wert! Die Botschaft wäre es doch wert, dass sie mehr als eine Handvoll Personen erreichen.
Am darauffolgenden Abend zu Düften und Heilkräutern ist der Raum dagegen voll.
Freitag, 28. Januar – Denken und Handeln
Es darf nie vergessen werden: Für unseren Körper ist es völlig gleichgültig, ob man eine Situation in Gedanken oder in der Realität erlebt.
Wie hieß dieser Sinnspruch, den man als Pubertierender über seinen Schreibtisch gepinnt hatte: Achte auf Deine Gedanken, denn sie werden zu Taten.
Und wie sagt der Dalai Lama zu Brad Pitt am Ende seiner inneren Reise in „Sieben Jahre Tibet“: Wenn Du eine Lösung für eine Frage hast, dann ist es kein Problem. Und wenn Du keine Lösung hast, lass es Dir nicht zum Problem werden.
Donnerstag, 27. Januar – Schöpferische Langeweile
Entdeckung der schöpferischen Langeweile. Es gibt in der bayerischen Mundart wunderbare Worte der Selbstbeschäftigung: „rumkrampeln“ oder „rumkruschen“. Es ist die fast meditative Beschäftigung mit den Dingen, die einen so umgeben. Man ordnet die Dinge auf dem Schreibtisch, räumt das Regal neu ein oder sortiert eben einfach seine Habseligkeiten.
Eigentlich hat das auch mit Langeweile zu tun. Man ist zwar beschäftigt, aber eben nicht zielorientiert. Es ist keine Arbeit, wenn man rumkruscht.
Diese Langeweile ist schöpferisch, denn sie entfaltet neue Gedanken, bringt unterschiedliche Erfahrungen zusammen. Und läßt Raum für Neues.
Mittwoch, 26. Januar – Anerkennung der Krankheit
Die meisten hadern hier mit ihrem Schicksal. Und das auch zurecht. Denn die Krankheit hat sie aus ihren gewohnten Lebensbahnen geworfen, manche abrupt, manche langsam und manche für eine gewisse Zeit und andere für ihr ganzes Leben. Der allzu menschlichen Versuchung, den schlimmeren Krankheitsverlauf als Trost zu nutzen, erliegen ebenfalls viele und verwandeln ihn bestenfalls in Demut und Versöhnung mit der eigenen Biographie.
Diesem Hadern liegt überwiegend zu Grunde, dass man wieder (wie zuvor) funktionieren will. Die ärztliche Behandlung möge doch bitte wie bei einem längeren Aufenthalt in der Werkstatt, die Maschine generalüberholen und zum gewohnten Laufen bringen.
Nur wenige sind den Königsweg gegangen und haben ihre Krankheit angenommen. Nicht resignierend, sondern weiterhin kämpfend, aber in der Erkenntnis, dass es mit (den Erfahrungen) der Krankheit zu leben gilt.
Dienstag, 25. Januar – Auszeit und e-Detoxing
Ein Aufenthalt in einer Kurklinik hat eine ganz eigene Dynamik und für viele verbindet sich neben der konkreten Heilbehandlung die Möglichkeit, ganz bewußt eine Auszeit vom Alltag zu nehmen und Gewohnheiten zu überprüfen oder sogar mit ihnen zu brechen.
Neben mir versuchen die meisten, das Essen zu reduzieren. Einige wollen volle drei Wochen auf Schokolade verzichten. Und andere hören auf zu rauchen. Ich habe am ersten Tag mein Smartphone abgeschaltet und in den Zimmersafe gelegt.
Das neue Modewort ist ja „electronic detoxing“ – es geht also irgendwie darum, zu entgiften oder zu entschlacken und sowas wie Diät zu halten – eben was die elektronischen Geräte angeht.
Nun, den ersten Tag ging das ganz gut, denn man läuft verwundert durch die Gänge und sieht so viele Menschen, die in ihr Endgerät starren. Warum nehmen sie ihre Umgebung nicht wahr, fragt man sich rhetorisch. Und seit langem genießt man den Nachmittagskaffee ohne gleichzeitig Mails zu checken und ebenso auch die anderen Mahlzeiten ohne das Handy neben dem Teller zu haben, um kurz mal was zu googeln und mögliche WhatsApp-Nachrichten nicht zu verpassen. Für einen kleinen Moment fühlt man sich Anderen überlegen, wie der Raucher, der zum ersten Mal eine angebotene Zigarette ablehnt. Aber dann...
In Studien wurde festgestellt, dass junge Leute rund 2000 Mal am Tag ihr Handy in die Hand nehmen. Und mir wird deutlich, dass ich in dieser Beziehung wohl jung geblieben bin. Denn ich bin bald auf Entzug und spüre nicht nur, dass ich immer wieder in die Tasche nach meinen Smartphone greife, sondern wir sehr mir diese Informationshappen fehlen und das Gefühl, ganz Wichtiges zu verpassen zunimmt. Und schon denke ich mir – ich könnte das Handy 1 mal am Tag nutzen, um kurz die Nachrichten zu prüfen – man will ja verbunden bleiben mit seinen Liebsten. Es gehört ja auch zum Fasten, dass man grundsätzlich etwas isst, aber eben weniger. Und schon merke ich, dass die Abhängigkeit so viel größer ist, als ich mir eingestanden hatte.
Es ist viel geschrieben worden über unsere Veränderungen durch die permanente Erreichbarkeit und die ständige Verfügbarkeit von Informationen, Unterhaltung und die Verführungen der sozialen Medien.
Kurzum: Wahrscheinlich brauchen wir den Entzug, um wieder anders damit umgehen zu können. Der elektronische Diener in meiner Tasche darf nicht zum Herren der Aufmerksamkeit, der Wahrnehmung, der Achtsamkeit und damit meiner Lebensgestaltung werden. Wie heißt es so schön: „Nur Dienstboten sind jederzeit erreichbar!“
Sonntag, 23. Januar – Kurzgeschichte: Maude oder Warum Joggen?
Es gibt geschenkte Begegnung und die Erinnerung daran zaubert uns ein Lächeln aufs Gesicht. Dazu gehört die völlig überraschende Begegnung mit Maude.
Es war schon dämmrig geworden an diesem frühen Abend Ende Januar und die Wolken hingen tief über den Wiesen an der Emmer. Man hörte die Krähen in den Bäumen und ansonsten nur hin und wieder einen Stallhund, - und das auch nur, wenn man an den kleinen Gehöften vorbeikam. Ich war schon lange Joggen, als mir aus der Ferne ein Kleinwagen entgegenkam und einige Meter vor mir überraschend anhielt. Und als ich näher kam, sah ich die zierliche Frau hinter dem Steuer, die das Fenster heruntergelassen hatte und mich irgendwie keck und freundlich zugleich ansprach: „Sagen Sie mal, warum macht Ihr das?“ Nachdem mein Unverständnis sicher auf dem Gesicht ablesbar war, legte sie in diesem sympathischen Dialekt des Weserberglandes nach: „Also ich mein, ich seh Euch da laufen. Ganz verbissen kommen mir die Leut entgegen. Laufen oder auch auf dem Fahrrad und man meint, sie beißen gleich vor Anstrengung in den Lenker. Verbissen seid Ihr. Kein Lächeln. Kein Aufschauen! Warum macht Ihr das?“ Vorsichtig begann ich mit meiner Rechtfertigung: „Nun ja, mir tuts gut. Mir tut die Bewegung gut. Da krieg ich einfach den Kopf frei, wie bei einer Meditation. Und ich gebe zu, Fanatiker gibts überall, auch beim Laufen, die verstehe ich auch nicht.“ Ihre Nachfrage: „Dann hast einen Bürojob?“ beantwortete ich mit einem Nicken und erntete ein zustimmendes Lächeln, das sich auf ihrem faltigen Gesicht zeigte. „Aber wenn Ihr Bewegung braucht, dann solltet Ihr einfach öfter bumsen. Das tut gut und dann habt Ihr auch Bewegung. Haste ne Frau?“ Als ich ihr zustimmte und meinte, „Naja, da hamse schon recht, aber das kann man ja nicht immer tun.“ mussten wir beide herzhaft lachen. „Naja, wissen Sie, die jungen Leut sind komisch geworden. Ich bin jetzt 82 und bin nie laufen gegangen oder so was. Und ich war nie krank. Gut, ich hab kein Fleisch gegessen, vielleicht war das nicht das Schlechteste. Aber das Laufen, denke ich mir, wird Euch auch nicht helfen.“ Da ich eher wortkarg war, weil ich ob der geballten Lebensweisheit verstummte, leitete sie schon den Abschied ein: „Na dann laufen Sie mal weiter“. – „Danke“ sagte ich und wünschte ihr alles Gute und fügte hinzu: „Meine Großmutter hat immer gesagt, bis zum Hundertsten is noch recht weit. In diesem Sinne alles Gute!“ Daraufhin hielt sie den Wagen nochmals an, der bereits am Anrollen war: „Ach wissen Sie, mein Mann ist gestorben und ich bin allein. Es ist nicht schön, allein zu sein. Es ist nicht schön, allein alt zu werden. Wenn ich die Tiere nicht hätte... aber alles hat eben seine Zeit. Nun machen Sie es mal gut!“ Und so fuhr sie los, winkte noch kurz aus dem Fenster mit ihren erkennbar schmächtigen Arm, der in Arbeitskleidung steckte und bald verschwand der silberne Kleinwagen mit Hamelner Nummer in der Dämmerung, die immer mehr die Landschaft erfüllte.
Mit einem Lächeln nahm ich das Laufen wieder auf und war mir sicher, dass ich immer mit einem Lächeln an diese Begegnung mit der Frau denken werde, die ich einfach Maude nannte, da sie mich an den skurrilen Film „Harold and Maude“ erinnerte.
Samstag, 22. Januar – Kurzgeschichte: Leben im Schloß
Er zündete sich sofort eine Zigarette an, als wir das Humboldtforum verließen und da sich in diesem Moment unsere Augen erstmals trafen und wir direkten Blickkontakt hatten, sagte ich fast beiläufig „Schon beeindruckend, nicht wahr?“ Unsere Wege hatten sich in den letzten Stunden immer wieder gekreuzt, obwohl die gesamte Anlage weitläufig und bei einem ersten Besuch auch unübersichtlich war mit all den Portalen, Innenhöfen, Sälen, Fluren und Ausstellungen.
„Beeindruckend meinen Sie? Ja, irgendwie. Und gleichzeitig niederschmetternd und frustrierend!“ Er bemerkte meinen verständnislosen Gesichtsausdruck und ergänzte: „Wir haben doch nichts gelernt. Da laufen wir staunend durch dieses neue Stadtschloß der Hohenzollern und genießen den prächtigen Betonbarock. Schauen und Staunen! Ja, das gebe ich schon zu, es ist schon beeindruckend, ein imposantes Gebäude im Herzen der Stadt. Okay! Aber vor lauter Stolz denken wir gar nicht mehr darüber nach, was wir hier machen. Und dann fühlen wir uns auch noch gut, denn wir haben ja alles verstanden und geben uns ganz modern und kosmopolitisch. Wir zeigen nicht nur die Beutekunst, sondern wir sprechen auch darüber: Über historische Verantwortung, Kolonialisierung und den nötigen Dialog zur Völkerverständnis. Wir sind auf der Höhe der Zeit: sogar das Gebäude selbst wird thematisiert. Und da wir darüber sprechen, ist es auch kein Problem, dass dieses für 677 Millionen Euro neu errichtete >Zentrum für Kultur, Kunst und Wissenschaft< unter Kuppel, Kreuz und einem Bibelspruch steht, der eine Unterwerfung aller Menschen unter das Christentum fordert.“ Nur kurz unterbrach er seine Ausführungen, um derart stark den Rauch zu inhalieren, dass die Zigarettenspitze glühte.
„Aber wissen Sie“, fuhr er fort und sah mich ernst an, „es ist doch ein schönes Sinnbild, dass wir alle in einem Schloß leben. Wenn Sie in Deutschland geboren wurden, dann gehören sie zur höfischen Gesellschaft. Ob nun König, Hofdame oder Ritter, Verwalter oder Diener, Köchin oder Stallknecht, wir sind alle ein Teil des Hofstaats. Natürlich gibt es auch an diesem Hof soziale Unterschiede und sogar die Möglichkeit, die Grenzen des eigenen Standes zu überwinden. Aber wir bleiben alle die privilegierten Mitglieder des Hofs. Wir sehen nicht, dass unser Wohlstand aufgebaut ist auf Ausbeutung der Arbeitskräfte und natürlicher Ressourcen in Asien, Lateinamerika und Afrika. Die Leibeigenen und Sklaven von heute. So wie zu anderen Seiten, wollen wir von Ungerechtigkeiten – und damit den Bedingungen außerhalb des Hofstaats - nichts wissen. Auch die Gelehrten und Priester am Hof kümmerten sich höchstens um Almosen zur Linderung des Loses der Leibeigenen. Und wir Intellektuellen heute sind wie Minnesänger, die von Idealen träumen und nichts ändern.“
Und dann drückte er seine Zigarette aus, wünschte noch einen schönen Tag und ging Richtung Alexanderplatz davon.
Montag, 24. Januar – #OutIinChruch
Was für ein Film, was für eine Reportage und vor allem, welch Mut, welch Überzeugung und welch Aufschrei! Ich bin immer noch ganz aufgewühlt und berührt von dem Film „Wie Gott uns schuf“ und ich fasse es in einem Brief an die drei Personen, die ich persönlich (seit Jahren) kenne:
Pfarrer Burkhard Hose
Pater Ralf Klein SJ
Pater Jan Korditschke SJ
stellvertretend für #OutInChurch
Lieber Pater Klein, lieber Burkhard, lieber Jan,
auf diesem Wege ein von Herzen kommendes Danke für diese mutige und im wahrsten Sinne des Wortes not-wendige Positionierung im Rahmen der Kampagne #OutInChurch. Ich bin voller Hochachtung für diesen mutigen und konsequenten Schritt von allen rund 125 Beteiligten.
Da ich Sie bzw. Euch seit Jahren kenne und wir in unterschiedlichen Zusammenhängen zusammenarbeiten durften, adressiere ich diesen nachdrücklichen Dank und die tiefe Achtung stellvertretend für das gesamte Projekt in diesem Brief (den ich auch auf meinem Blog einstellen werde: https://grillmeyer.jimdosite.com)
Offen gestanden habe ich mir nie Gedanken über Ihre/Eure sexuelle Orientierung gemacht und sehr wahrscheinlich habt Ihr Euch übrigens auch keine Gedanken über meine gemacht. Denn sie spielte (und spielt auch weiterhin) keine Rolle. Ich durfte Sie/Euch immer erleben als geisterfüllte Menschen, die sich der Sache Jesu angenommen haben, weil sie den Menschen im jeweiligen Wirkungskreis ein „Leben in Fülle“ ermöglichen möchten: Im Einsatz für Andere, im Einsatz für mehr Gerechtigkeit und Frieden, im Einsatz für die Armen!
Als ich gestern Abend den Film „Wie Gott uns schuf“ sehen konnte, wurde mir erst richtig deutlich, wieviel Leid diese systematische Ausgrenzung jeden Einzelnen – und damit eben auch Ihnen und Euch – angetan hat. Wieviel Belastungen und Kränkungen zu ertragen waren und immer noch zu tragen sind. Das ist traurig und tut mir leid.
Ich bin zur Zeit auf einem Kuraufenthalt und sah den Film im Fernsehzimmer. Die immer wieder von zwei Damen neben mir schon regelrecht seufzend ausgestoßene Frage „Warum tun sich die Leute das an?“ wird in dem Film nicht direkt gestellt, aber indirekt umso überzeugender beantwortet: Weil es die Sache (Christi) eben wert ist und weil dazu auch die Gemeinschaft der Kirche gehört. Und weil es auch das Evangelium – wie sollte man es anders lesen ohne den Kern der Nächstenliebe zu verlassen – auch so klar als nachgerade Selbstverständlichkeit fordert, was Sie/Ihr in Eurem begleitenden Manifest (www.outinchurch.de/manifest) benennt, ein „freies und von Anerkennung der Würde aller getragenes Zusammenleben und Zusammenarbeiten in unserer Kirche.“
Der Film hat mich aufgewühlt. Aber nicht nur in der Anteilnahme an dem Schmerz, der hier so offen und ohne Polemik vorgetragen wurde. Sondern auch durch die Wirkung eines derart starken Zeichens und Bekenntnisses, das Hoffnung macht. Es ist schon vermessen, wenn ich selbst – der nie derartige Ausgrenzung ausgesetzt und Verachtung erfahren musste – mich mit einer Erfahrung anschließe: Denn auch mir wurde – dienstlich als Leiter einer katholischen Bildungseinrichtung und privat als bekennender Christ – zunehmend und zunehmend drängend die Frage gestellt: „Warum tust Du Dir das an?“ und auch „Wie kannst Du (noch) zu dieser Institution stehen?“ Und ich durfte in diesem Film erleben, dass über 120 Persönlichkeiten deutlich sagen: weil es uns die Botschaft Christi wert ist.
Ein herzliches Danke dafür! Und ich freue mich, wenn wir uns einmal wieder sehen. Möge der Wunsch und das Gefühl weitertragen, das am Ende des Films so schön formuliert worden ist: „Die Freude, ins Land der Freiheit gekommen zu sein!“
Ihr/Euer Siegfried Grillmeyer
Freitag, 21. Januar – Wannseekonferenz
Gestern jährte sich das Ereignis, mit dem wir uns alle beschäftigen sollten: Die Wannseekonferenz. Und vor allem kann ich dazu den neu auf die Leinwand (oder neuerdings besser in die ZDF Mediathek) gekommene Verfilmung empfehlen (ZDF: Die Wannseekonferenz, Regie: Matti Geschonneck, mit vielen bekannten Gesichtern wie Philipp Hochmair, Thomas Loibl, Peter Jordan, Johannes Allmeyer, Jakob Diehl und andere).
Es ist so nachvollziehbar, dass Entwicklungen ihren Lauf nehmen, wenn niemand mehr die Grundsatzfragen stellt. Und diese Fragen Bezug nehmen zu den Grundlagen eines humanen Zusammenlebens, welche der Würde des Menschen verpflichtet sind.
Hier verhandeln Bürokraten und Technokraten und suchen nach instrumentellen Lösungen, als würde es sich um rein logistische Fragen handeln. Und wenn man dabei sein Ressort, seine Abteilung und auch die eigene Karriere gestalten kann, fragt man schon gar nicht mehr nach den zugrundeliegenden Welt- und Menschenbildern. Und die damit verbundene Sprache verdeckt, verschleiert, vernebelt.
Man ist erinnert an das häufig falsch verstandene Wort der „Banalität des Bösen“ und die „Dialektik der Aufklärung“.
Wir sollten uns alle damit beschäftigen.
Donnerstag, 20. Januar – ein Dammbruch der Kirche
Natürlich war schon vieles bekannt und die bereits vorliegenden Dokumentationen aus anderen Diözesen und die Diskussion um die Freigabe (früherer) Gutachten hatte das Ausmaß des systemischen Versagens der Kirche offen gelegt. Aber die Münchner Missbrauchsstudie hat nochmals eine andere Dimension: Dem obersten Vertreter der Glaubensgemeinschaft kann man also aus guten Gründen bestätigen, dass seine „Aussagen wenig glaubhaft“ seien. Eine schöne Formulierung, die nur vermeidet deutlich auszusprechen, dass ein Papst (dessen Wahlspruch: „Cooperatores Veritatis“ heißt) wohl gelogen hat.
Und dann der Blick in den Abgrund: Ein Kardinal, der das Gutachten nicht selbst entgegen nimmt, sondern wieder einmal die Ordinariatschefin und den Generalvikar vorschickt. Die rein rechtliche Argumentation, die der moralischen Verantwortung völlig aus dem Weg geht. Die sozialpsychologisch aus allen (kriminellen) Organisationen bekannten Muster: Das System schützen, ggf. verheimlichen, vertuschen und immer nur zugeben, was aufgrund der Faktenlage nicht mehr zu leugnen ist. Nicht zu vergessen: der weiterhin fehlende Blick auf die Opfer, die Fähigkeit zur Einsicht, Entschuldigung und Bitte um Verzeihung, Verantwortungsübernahme, Buße. Wie hatte Hans Zollner schon vor Jahren gefragt: „Is there a rotten Apple or is it a rotten System – this is the question!“
Das Münchner Gutachten hat nochmals einen Damm durchbrochen, der schon längst völlig ausgehöhlt war und die letzte Verteidigung der Glaubwürdigkeit der Institution Kirche ins Wanken gebracht hat.
Und auch die Beteuerungen von einzelnen Bischöfen wirken im Angesicht der Taten schal, dass man nun radikal etwas verändern müsse und die Enttäuschung und den Ärger verstehen könne.
Und dennoch: Die Botschaft ist es wert. Der Einsatz für den Nächsten, der den Menschen in den Mittelpunkt stellt und Solidarität übt. Das Aufopfern für die Entrechteten, Armen, Außenstehenden. Die Mitarbeit an so vielen Orten für eine Welt „von Gerechtigkeit und Frieden“ aus einer christlichen Motivation heraus. Denn auch wenn die Flut vielleicht nötig ist, damit nach dem Dammbruch manche alte Strukturen hinweg gespült werden. Es muß das Gute bewahrt werden, das Menschliche, das Glaubwürdige,- das so viele Menschen täglich als Christinnen und Christen in Institutionen der Kirche gestalten.
Man könnte schreien und vielleicht ist es an der Zeit, dies auch zu tun.
17. Januar – Etty Hillesum
Erst kürzlich habe ich das Tagebuch von Etty Hillesum entdeckt. Und in der Tat: Es ist eine Entdeckung! Wie dicht hat diese Frau geschrieben, wie klar hat sie immer wieder eine Erkenntnis dem bitteren Leben abgerungen. Am 12. Juli 1942 schrieb sie in ihr Tagebuch, das unter dem bezeichnenden Titel „Das denkende Herz“ ediert wurde: „Nur dies eine wird mir immer deutlicher: dass du (Gott) uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen, und dadurch helfen wir uns letzten Endes selbst. Es ist das Einzige, auf das es ankommt: ein Stück von dir in uns selbst zu retten, Gott. Und vielleicht können wir mithelfen, dich in den gequälten Herzen der anderen Menschen auferstehen zu lassen. Ja, mein Gott, an den Umständen scheinst auch du nicht viel ändern zu können, sie gehören nun mal zu diesem Leben. Ich fordere keine Rechenschaft von dir, du wirst uns später zur Rechenschaft ziehen. Und mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen.“ J.G. Gaarlandt (Hg.): Das denkende Herz. Die Tagebücher von Etty Hillesum 1941-1943, Reinbek bei Hamburg 2018, S. 149.
12. Januar – Staudamm oder Ritardando
Es ist ein klassisches Motiv für das Leben – der Fluss, der uns mitnimmt auf seine Reise und alles in Bewegung hält. „Panta rhei“ hat Platon philosophiert: „Alles fließt und nichts bleibt; es gibt nur ein ewiges Werden und Wandeln“ und damit Heraklit zitiert, der so schön formuliert hatte: „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, denn andere Wasser strömen nach.“
Bei diesen Bildern kommt mir immer mehr in den Sinn, dass wir mittlerweile auf einem reißenden Strom unterwegs sind und täglich nur damit beschäftigt, nicht unterzugehen und irgendwie „mitzuschwimmen“. Und dieses Sinnbild gilt ebenso für unsere Gesellschaft wie für uns als Individuen.
An so einem Tag wie heute kann man mal eine Staustufe einbauen, um die Geschwindigkeit auf diesem Fluss des Lebens zu drosseln. (Ich kann mir keine schönere Form der eigenen Geburtstagsfeier vorstellen).
Aber wie bauen wir öfter und dauerhaft Staustufen ein oder wenigstens Haltestellen, um immer wieder andocken zu können, um nicht fortgerissen zu werden? Ein dauerhaftes Ritardando, ein allmähliches Verlangsamen zu einem ruhigeren Tempo würde mir gefallen.
Montag, 10. Januar – Muskelkater
Mit Muskelkater mitten in der Nacht aufgewacht und dabei der Gedanke: Kann man sich auch im Geiste einen Muskelkater holen, der schmerzt und erst einmal lähmt. Kann man sich überheben, übderdehnen mit großen Fragen?
Vielleicht ist es eine Herausforderung an die Pädagogik und Didaktik, einem geistigen Muskelkater zu entgehen. Dem Lernenden die richtigen Übungen und Portionen zu geben, um allmählich die geistigen Muskeln aufzubauen.
Vielleicht ist es eine Frage an die Theologie und Philosophie. Wer sich nie an die großen Fragen heranwagt mit ersten Übungen, wird für den nötigen Wettkampf wenig trainiert sein, wenn es beispielsweise ansteht, mit Krankheit und Tod umzugehen.
Und schließlich erinnere ich mich an die Legende des Augustinus, die besagt: Der Gelehrte war dabei, ein Buch zu schreiben und darin die Dreifaltigkeit zu ergründen, als er am Strand spazieren ging und einen Jungen entdeckte. Dieser hatte eine Grube aus Sand gemacht und schöpfte mit einem Löffel Wasser aus dem Meer dorthin. Als Erklärung seines Tuns antwortete dieser, er habe vor, mit dem Löffel das Meer trocken zu legen. Augustinus schüttelte lächelnd den Kopf und kommentierte, dass es ein unmögliches Unterfangen sei. Darauf erwiderte der Junge, dass er wohl leichter dazu imstande sei als der Gelehrte, auch nur die einfachsten Geheimnisse zu ergründen.
Sonntag, 9. Januar – Zwerge auf Riesen
Es ist immer wieder erschreckend, wenn sich Menschen als etwas Großes wahrnehmen, als eine herausragende Person über allen anderen und beim Anblick und Verweis auf ihren langen Schatten, den sie werfen, leider völlig übersehen, dass sie nur Zwerge auf den Schultern von Riesen sind.
Und bei diesem schönen Gleichnis der Wissenschaftsgeschichte bin ich wieder bei der gegenwärtigen Suche nach den heutigen Welterklärungen. Das Gleichnis hat wohl antike Wurzeln, wurde aber durch Bernhard von Chartres Anfang des 12. Jahrhunderts zur Bestimmung von Tradition und Kultur der früheren Generationen zur gegenwärtigen Sicht der Welt verwandt. Wer einmal in der Kathedrale zu Chartres die wunderbaren Fenster unter der Rosette im Südportal der Kathedrale gesehen hat, findet diese Weltdeutung vor sich: Auf den Schultern der vier Propheten des Alten Testamentes Jesaja, Jeremia, Ezechiel und Daniel sitzen als kleinere Figuren die vier Evangelisten. Aber auch in der Wissenschaftsgeschichte wurde dieses Gleichnis immer wieder bemüht: Müssen wir dankbar sein, auf den Schultern stehen zu dürfen, oder sind wir dadurch nicht letztlich doch größer? Und vielleicht, so hat es sinngemäß Ludwig Wittgenstein formuliert, müssen wir in der Wissenschaft die Leiter abwerfen, auf der wir zum jetzigen Stand des Wissens aufgestiegen sind.
Das Gleichnis ist schön: aufgrund der Erkenntnisse unserer Vorfahren können wir lernend hochsteigen und haben einen weiteren Blick über die Welt und können uns dann unser eigenes Bild machen. Aber es hilft nicht weiter: Denn in diesem Gleichnis ist der dauernde Fortschrittsglaube schon eingewoben. Vielleicht müssen wir auch hin- und wieder absteigen, um andere Weltdeutungen zu sehen und zu hören.
Freitag, 6. Januar – Kant
Sinngemäß habe ich irgendwo bei Kant gelesen: Und schaue ich in die tiefsten Ecken und Winkel meines Herzens, sehe ich lauter Ambivalenzen.
Habe Stunden zugebracht das Originalzitat zu finden und gebe nun auf – es dürfte nur wenigen zu vermitteln sein, weshalb man Stunden seiner Lebenszeit auf der Suche nach einem Zitat verbringt.
Donnerstag, 5. Januar – Träume
Gerne würde ich jemanden einladen zu meinen Träumen. Manchmal geben sie mir Rätsel auf, die ein anderer vielleicht lösen könnte. Manchmal bleiben sie ein Geheimnis, dem man zumindest näher kommen kann. Aber immer sind sie ein Schlüssel, um ein wenig mehr zu verstehen.
Sonntag, 2. Januar – Weiterschreiben als Fingerübungen
Nun schreibe ich die Jahreszahl 2022 in das Notizbuch. Und gleichzeitig lege ich ich die gleichnamige Datei im Computer an. Denn es hat sich im vergangenem Jahr nicht bewährt, wie ein Reporter ein Büchlein mit kurzen Notizen zu führen und dann darauf zu hoffen, dass irgendwann genügend Zeit sein wird, um daraus Geschichten und Reflexionen zu gestalten. Es ist immer zu wenig Zeit!
Und sollte ich mir überhaupt etwas vornehmen für dieses neue Jahr, dann schlicht den Vorsatz, mehr zu schreiben und dafür weniger zu erleben, also zu entschleunigen.
Interessanterweise erkennt die Software fast jedes Wort, das ich schreibe - und mir wird vor Augen geführt, dass ich wohl nicht übermäßig kreativ bin und gängige Wortkombinationen verwende - aber das Verb entschleunigen ist der Textverarbeitung unbekannt.
Es fehlen uns Worte und damit auch die Grundbausteine neuer Erzählungen. Das lese ich auch gerade, wie immer brillant und mit nahezu mathematischer Präzision hergeleitet bei Philipp Blom in seinem Essay „Das große Welttheater“.
Aber vielleicht können wir die alten Erzählungen auch retten, neu übersetzen. Ich mag sie nicht aufgeben, sondern möchte sie hervorholen wie alte Schätze, die es zu heben gilt.
Als Überschrift wähle ich - neben der Jahreszahl - den Begriff der „Fingerübungen“. Er umschreibt am besten den Sinn und Zweck dieses essayistischen Unterfangens. Ob ich überhaupt eine gewisse Meisterschaft erreiche, das mag ich nicht beurteilen und es verbietet die Bescheidenheit. Es muss der Eitelkeit genügen, wenn manche Bruchstücke daraus an anderer Stelle veröffentlicht werden können. Allein die Zusage an den Echter Verlag, bis zum Frühjahr insgesamt 24 Kurzgeschichten zu einem Sammelband zusammen zu stellen, dürfte eine Herausforderung werden und bedarf der Übung. Und erst recht der so lange gehegte Wunsch, meinen Jugendroman (Alltägliches. Aus dem Leben eines Zivildienstleistenden) zu überarbeiten und irgendwie zu veröffentlichen, braucht das Arbeiten am Text. Aber noch mehr bedarf das Denken grundsätzlich des Schreibens. Gedanken müssen ins Wort gesetzt werden, um Klarheit zu erhalten.
Und übrigens, ohne Fingerübungen verkümmern die höchsten Fertigkeiten jeglicher Kunst.
Freitag, 31. Dezember – Das Schließen des Buches
Es ist an der Zeit, das Tagebuch für das Jahr 2021 zu schließen. Zu manchen Tagen stehen darin nur kurz vermerkte Notizen und damit noch unvollendete Fragmente. Ein schönes Bild für das Jahr, in dem so manches fragmentarisch blieb.
Vielleicht muss ich noch viel intensiver lernen, die Streu vom Weizen zu trennen und damit ein untrügliches Gespür zu entwickeln, was nun wert ist, aufgeschrieben zu werden. Und auch, was noch reifen muss, um eine Wertigkeit zu bekommen. Viel zu groß ist die Gefahr beim Schreiben, dem Banalen Raum zu geben und Nachdenken zur Geschwätzigkeit verkommen zu lassen.
Und ebenso ist unklar, was aus der mittlerweile recht ansehnlichen Datei werden soll. Einfach ein Buch, um weiter damit zu arbeiten, wie ich angefacht hatte? Oder auf Dauer doch ein Blog, um aus dem Selbstgespräch des Reflektierens einen Dialog werden zu lassen?
Aber eines ist klar: nach dem Schließen dieser Seiten schlage ich auf jeden Fall ein neues Büchlein auf. Das zweite werde ich Fingerübungen nennen. Denn ich bedarf dieser Fingerübungen wie der Klavierspieler, um in der Kunst des Nachdenkens und ins Wort fassen voranzukommen.
Donnerstag, 30. Dezember – Im Zug von St. Petersburg nach Moskau
Unterwegs sein ist wunderbar! Und „wunderbar“ wird übrigens zu einer meiner Lieblingsvokabeln. Denn so vieles macht im Alltag die Tür auf zu einer anderen Welt und Wahrnehmung - und das ist dann ein Moment voller Wunder (also wie es das Englische mit wonderful umschreibt) oder offenbart eben Wunder, ist also einfach wunderbar.
Und das Reisen ist wunderbar, weil es die eigene Winzigkeit und relative Bedeutungslosigkeit bewusst werden lässt und zur Demut führt oder im Spiegel anderer Lebenswelten die persönliche Exklusivität und Bevorzugung durch das reine Schicksal der Geburt offenbart, was uns zur Dankbarkeit führen vermag.
Diese Gedanken verdichten sich seit der Abreise am 27.12. und werden nochmals klarer bei der langen Zugfahrt von Petersburg nach Moskau und zurück. Es wechseln sich dichte Wälder mit offenen Landschaften, in denen die verstreuten Birken mit ihren schwarz-weißen Stämmen eigenartig mit dem Schnee kokettieren, sich mit kleinen Einöden bzw. Dörfer und wenigen größeren Städten ab, in denen Menschen wie Ameisen zu den Toren der Fabrikgelände eilen, als wir vorbeifahren.
Mittwoch, 29. Dezember – Eremitage und Mariinsky Theater
Vielleicht brauchen wir mehr Kunst, denke ich mir vor den wunderbaren Bildern Rembrandts in der Eremitage und vielleicht braucht es einfach mehr Musik, denke ich mir im Mariinsky Theater mit Tschaikowski, um die Probleme der Welt zu lösen.
Dienstag, 28. Dezember – Von Bären und Menschen
„Hier laufen doch keine Bären mehr rum. Was haben Sie denn erwartet?“ fragt uns Tatjana während wir am Newskij Prospect im Stau stehen. Und für einen kleinen Moment habe ich die Befürchtung, dass ich sie mit meinen Fragen und Vergleichen gekränkt habe. Dabei hatte ich nur erklären wollen, dass ich mir St. Petersburg nicht derart europäisch vorgestellt hatte. Etwas hilflos füge ich an, dass ich Russland eben gar nicht verstehe, worauf sie schon eher süffisant erwidert: „Wie wollen Sie denn Russland und die Russen verstehen, wenn sich diese nicht einmal selbst verstehen. Es verstehen die Petersburger nicht einmal die Moskauer und umgekehrt.“
Aber es bleiben nicht die einzigen offenen Fragen an diesem Wintertag im „Venedig des Ostens“ und Tatjana erweist sich noch des Öfteren als treffsichere Kommentatorin russischer Paradoxien. Im Vorbeifahren an der wunderbaren Erlöserkathedrale und damit einer von 163 Kirchen in der Stadt quittiert sie mein Nachfragen nach der heutigen Religiosität der russischen Bevölkerung mit dem herrlichen Satz: „Wir Russen sind offiziell Atheisten, aber wir gehen sehr gerne in die Kirche.“
Was mir allerdings nicht aus dem Kopf geht, ist die Frage, was diese Zarenherrlichkeit letztlich gekostet hat und damit meine ich keinen Betrag in Rubel oder einer anderen Währung, sondern wie viel war an Ausbeutung nötig, wie viel an Fronarbeit und damit Entbehrung und Not. „Ach wissen Sie, wir hatten in diesem Land immer genügend Menschen übrig.“ erläutert unsere Wegbegleiterin lapidar und verweist nochmals auf die kurze Erbauungszeit der Metropole mitsamt ihren Residenzen und Palästen.
Aber ich gebe lange nicht auf, nach dem damaligen und heutigen Lebensgefühl in dieser faszinierenden Stadt zu fragen. Wie kann man in dieser Stadt leben, wenn man ein monatliches Einkommen von 150 bis 200 Euro zur Verfügung hat, während außer den Grundnahrungsmitteln vieles ähnlich teuer ist wie bei uns in Westeuropa? Das bleibt mir ein Rätsel, von dem ich hoffe, dass die lebenserfahrene und äußerst belesene Tatjana es mir löst. „Nun, die Gegensätze waren in dieser Stadt und erst recht zwischen Stadt und Land in Russland schon immer immens. Hier der Palast und dort die armseligen Hütten. Und wie gesagt, wir haben hier immer genügend Menschen übrig.“ Und während wir an einem schneeschaufelnden Mann und einer dezent bettelnden Frau vorbeifahren bin ich mir sicher, dass „übrig“ kein Übersetzungsfehler war.
Montag, 27. Dezember – Reisen im Winter
Der Winter hat etwas Majestätisches. Vielleicht auch deshalb, weil ihm die Leidenschaft des Sommers fehlt.
Wir fliegen in den hohen Norden, von München nach Helsinki und von dort ostwärts nach St. Petersburg.
Aufgrund der Flughöhe lässt sich nicht entscheiden, wo die Wolken aufhören und die Eisschollen beginnen. Und wieder einmal wird mir bewusst, wie viele Schattierungen und Spielarten die Farbe hat, die wir weiß nennen.
Und nach dem Meer überfliegen wir weite, unbewohnte nordische Landschaften. Die Bäume haben den Schnee abgeschüttelt. Sie stehen dunkel zusammen und bilden so eine oft geschlossene Fläche, die ihr lebensattes Grün nur erahnen lässt. Nur ganz selten durchzieht ein Fluss oder ein Weg die zwischen den dunklen Wäldern liegenden Schneeflächen wie kleine Äderchen. Und es bleibt offen, welche Lebewesen diese Spuren gezogen haben.
Freitag, 24. Dezember – Und es begab sich zu jener Zeit
Und es begab sich zu jener Zeit - meine Weihnachtsgeschichte
Die Hirten, ein Stall und ein Neugeborenes in der Krippe. Es braucht nicht viele Figuren und wenig Requisiten für diese Geschichte. Und doch kann sie in unserem Kulturkreis wohl jedes Kind weiter erzählen und sie gehört völlig zu Recht zu den großen Erzählungen der Menschheit. Und um es gleich vorweg zu sagen: Diese Erzählung sollten wir für uns selbst und gleichzeitig für unsere Gemeinschaft immer wieder neu erzählen, damit sie nicht in Vergessenheit gerät und vor allem ihr Potential entfalten kann.
Da wird also etwas Realität und ist genau zu datieren, als eben Augustus Kaiser war und Quirinius sein Statthalter. Und das Erlösende kommt in aller Armut und das Unglaubliche beginnt am Rande der Gesellschaft. Welche Götter kommen ohne Macht und Reichtum aus und wie verzaubernd ist der Gedanke, dass mit jeder Geburt etwas Neues beginnt, das in sich Göttliches trägt? Und die ersten, die es erfahren, sind ebenfalls die Randständigen. Und ihnen wird als den als den Ersten das Außergewöhnliche offenbart und die Verheißung zugesprochen: es ist Frieden möglich und die Angst hat ein Ende: Fürchtet Euch nicht!
Es ist also eine andere Welt möglich. Eine Welt ohne Reichtum, Macht, Gier, Ausbeutung und Unterdrückung. Ein anderer Frieden kann geschaffen werden als die reine Abwesenheit von Krieg. Nichts ist unveränderlich, alternativlos. Mit der Geburt des göttlichen Kindes im jämmerlichen Stall wird die Verheißung erzählt, dass immer ein neues Zeitalter beginnen kann, in dem sich das Gute, das Schöne, das Erhabene durchsetzt. Und um es mit dem schönen Satz von Karl Rahner zu sagen: Mach es wie Gott, werde Mensch!
Was für eine wunderbare Geschichte, die auch alle Anders- und Nichtgläubigen verstehen und ebenso in ihren Bann ziehen kann. Aber dafür müssen wir sie erzählen und befreien von den dominanten Bildern im Kopf: von anmutigen, schönen und sauberen Gestalten, die um die Krippe stehen, in denen ein süß lächelnder weißer Säugling mit blondem Haar liegt.
Die alte Geschichte ist ganz neu zu erzählen: Und es begab sich zu jener Zeit...